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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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erst recht im Unterricht.
     Mir kam das sehr entgegen, denn ich hatte Mobiltelefone aus konsumkritischen Erwägungen – ich wollte mir nicht jede überflüssige
     technische Neuerung aufnötigen lassen – und dem Bedürfnis, nicht permanent erreichbar zu sein, immer abgelehnt. Noch im Jahr
     2007 hoffte ich, dass es sich dabei um ein vorübergehendes Phänomen handelte.
    Für meine 9b hingegen war ein Leben ohne dieses Kommunikationsmittel aber nicht mehr vorstellbar, wie ich sofort merkte, als
     ich sie übernahm. Das allgemeine Handyverbot in der ganzen Schule galt in den Augen der Schüler nur für Lehrer. In der ersten
     Stunde, in der ich die Klasse in Französisch unterrichtete, wurde unter den Tischen mit Sicherheit mehr Text gesimst als auf
     ihnen geschrieben.
    Ich war neu, also versuchte ich es zunächst im Guten. Ich war naiv, also ging ich davon aus, die Schüler würden mich, weil
     ich noch unter dreißig war, für cool halten und folglich auf meine Meinung und
attitude
etwas geben: «Hört zu!», erklärte ich ihnen, bevor ich sie in die Pause entließ: «Handys vermitteln euch |171| ein falsches Gefühl von Freiheit. In Wirklichkeit machen sie euch nur abhängig, weil man von euch erwartet, ständig verfügbar
     zu sein. Und wenn ihr mal nicht rangeht, macht man euch Vorwürfe. Ihr werdet so total kontrolliert. Also, mich würde das total
     nerven. Darum hatte ich auch noch nie ein Handy und werde auch nie eins haben.»
    Mit dem letzten Satz hatte ich jeden Sympathievorschuss, den mir die Schüler wegen meines noch relativ jungen Alters entgegengebracht
     hatten, verspielt. Meine Worte übten auf sie ungefähr die gleiche Wirkung aus wie zwanzig Jahre zuvor auf mich die Brandrede
     meines Großvaters, als er gegen das Übel Fernsehen wetterte. Nämlich gar keine. Im Gegenteil, sie verstärkten eher die Entschlossenheit
     der Jugendlichen, ihr Mobiltelefon im Unterricht trotz Verbot zu benutzen. Zumal es für Schüler oftmals ein lohnender Versuch
     war, auszutesten, wie weit sie bei einem neuen Lehrer gehen konnten. Und die Machtverhältnisse zwischen ihnen und mir waren
     schließlich noch ungeklärt.
    In der folgenden Stunde beschränkte sich der Gebrauch der Geräte nicht mehr allein auf das Verfassen und Senden von SM S-Nachrichten . Einige Schüler hörten damit sogar Musik.
    «Eure Musik stört!»
    Sie holten Kopfhörer heraus.
    «Im Unterricht wird keine Musik gehört! Sonst gibt es eine Sechs. Fürs SM S-Schreiben gilt das Gleiche.»
    Als ihnen klar wurde, dass ich nicht spaßte, ließen sie das Simsen und Musikhören tatsächlich sein. Dabei hatte ich, da ich
     zu jenem Zeitpunkt noch keine Namen aus der Klasse kannte, die Sechsen ohne namentliche Zuordnung notiert. Ich wusste gar
     nicht, an wen ich die dreizehn Sechsen vergeben hatte, nur dass es fünf Jungen und vier Mädchen waren und ein Schüler gleich
     viermal die Note Ungenügend erhalten hatte.
    Wochen später erwischte ich sie, wie sie mich mit ihren Mobiltelefonen |172| heimlich fotografierten und filmten. Ich stand vor einem Dilemma. Einerseits war ich mir ziemlich sicher, dass Fotografieren
     und Filmen unter das Schulverbot fielen. Andererseits schmeichelte mir das unerwartete Interesse an meiner Person. Meine Eitelkeit
     war schließlich stärker als mein Pflichtbewusstsein. Und so bemühte ich mich, wenn während der Stunde ein Handy auf mich gerichtet
     schien, besonders fotogen zu unterrichten. Wiederholt schürzte ich meine Lippen zu einem erotischen Kussmund, nachdem ich
     sie mit der Zunge befeuchtet hatte.
    Bald jedoch erfuhr ich von André Groll von einer Internet-Plattform namens YouTube, die bei der Eingabe der Kombination «Lehrer
     + peinlich» mittlerweile über zwanzig Videos mit mir in der Hauptrolle ausspuckte. Ich war tief enttäuscht von meinen Schülern.
     Um sie einzuschüchtern und ihnen einen Spiegel vorzuhalten, brachte ich nun meine Kamera mit in den Unterricht: «Jetzt fotografiere
     ich euch mal. Und dann stell ich das auf You-Tube rein. Das findet ihr dann bestimmt nicht mehr lustig.» Sie waren wenig beeindruckt,
     vielleicht, weil es sich nicht um eine digitale Kamera handelte, sondern eine Leica aus den vierziger Jahren, ein Erbstück
     meines Großvaters.
    Meine Enttäuschung über das Verhalten meiner Schüler und die Ernüchterung darüber, über keine vergleichbaren Waffen zu verfügen,
     veranlassten mich schließlich, nun doch gegen jede Form von Handynutzung rigoros vorzugehen. Sollte ich

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