Föhn mich nicht zu
der ersten Stunde, war meine Aufregung plötzlich verschwunden. Es war wie im Film gewesen. Unwirklich.
Ich hatte neben mir gestanden und mir zugeschaut. Es schien sogar ein guter Film zu sein, wenigstens aus meiner Perspektive.
Zunächst die Französischstunde. Ich hatte keine gravierenden Fehler beobachten können. Dann Geschichte. Die fünfundvierzig
Minuten waren besser gelaufen als in jeder vorherigen Lehrprobe. Es war mir zu meiner Überraschung gelungen, mich von Frau
Stahl nicht verunsichern zu lassen. Der Klasse hatte der Unterricht allem Anschein nach sogar Spaß gemacht. Selbst Burak und
Jamal hatten sich eingebracht. Doch leider hatten meine Geschichtsseminarleiterin und Herr Schubert davon nichts mitbekommen,
weswegen ich am Ende von der Prüfungskommission trotz meiner guten Note bei Frau Lau folgendes Ergebnis mitgeteilt bekam:
«Zusammen ergibt das eine 3,5, die auf Vier abgerundet wird. Herzlichen Glückwunsch! Sie haben bestanden. Wollen Sie auch
die tragenden Erwägungen hören, die Ihre Note begründen?» Das hatte ich gewollt, um sie mir zu merken und gegen die Fünf in
Geschichte zu klagen. Aber die tragenden Erwägungen waren wieder aus meinem Kopf verschwunden, bevor ich sie irgendwo in meinem
Gedächtnis hatte festzurren können. Schließlich akzeptierte ich mein Schicksal und war von meinem Hauptseminarleiter mit folgenden
Worten verabschiedet worden: «Sie haben das Beste aus Ihren Möglichkeiten gemacht.»
Als ich meiner Elften nach ihrem Freudentanz dann noch etwas genauer vom Ausgang meiner Prüfung berichten konnte, reagierten
die Jugendlichen in einer Weise, die mich überraschte: «Ihre Zensuren sind ja auch schlecht. So wie bei uns. Sie sind also
auch nisch besser.» In dieser Bemerkung lag aber kein Spott: «Wir finden Sie trotzdem cool.»
|232| «Hört zu», entgegnete ich gerührt, «ich weiß diese Worte zu schätzen. Und hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder.» Eigentlich
war ich mir sogar sicher, dass wir uns wieder treffen würden. Spätestens in ein paar Jahren im Jobcenter. Ich würde ihnen
einen Platz in der Schlange freihalten.
Lehrerzimmer, Mittwoch, Freistunde
Frau Voigt: Und, wie is es gelaufen?
Herr Rauter: Ja, erzähl mal!
Ich: Scheiße. Französisch war gut. Aber in Geschichte hab ich eine Fünf. Dabei hatte ich so ein gutes Gefühl. Diese blöde Kuh.
Und natürlich mein Hauptseminarleiter. Die haben das vorher abgesprochen!
Frau Voigt: Kopf hoch! Ich hatte damals auch einen schlechten Abschluss. Wenn du erst mal Lehrer bist, interessiert das keinen mehr. Und
ich hab dir doch selber gesagt, dass du ein guter Geschichtslehrer wirst. Am wichtigsten sind doch sowieso die Schüler.
Ich: Was nützen mir die Schüler, wenn ich keine Stelle bekomme?
Herr Rauter: Du kriegst schon eene. Nächstes Jahr jehe ick in Pension. Dann lege ich ein Wort für dich ein, dass du meine erhältst.
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Frida Kahlo Director’s Cut
«Stephan, könntest du in der 10a bitte einen Film zeigen. Danke!» Die Nachricht stand auf einem kleinen Zettel in meinem Lehrerzimmerfach
und war von Leonora, der Kunstreferendarin, die ich für eine Stunde vertreten sollte. Sie war wegen der Vorbereitung eines
Unterrichtsbesuchs anderweitig beschäftigt. Im Normalfall war eine Vertretungsstunde für den betroffenen Lehrer schlimmer
als jeder reguläre Unterricht, zumindest, wenn man die Klasse nicht kannte. Denn dann nahmen die Schüler einen nicht ernst,
und man genoss praktisch keine Autorität. Aber dieses Schicksal schien mir Leonora mit dem Film ersparen zu wollen. Mit audiovisueller
Unterstützung sah eine Vertretungsstunde gleich ganz anders aus. Die Schüler waren fünfundvierzig Minuten abgelenkt, und man
konnte die Zeit nutzen, um Klausuren zu korrigieren oder den nachfolgenden Unterricht vorzubereiten. Es durfte nur nicht zu
technischen Schwierigkeiten kommen. Der neuralgische Moment war darum der Anfang, wenn es darum ging, Abspielgeräte zum Laufen
zu bringen. Dafür gab es zum Glück aber immer mindestens einen Schüler, der das konnte.
Diesmal fiel dieser Schüler allerdings aus. Leonora hatte den Film auf Video, ein Medium, das die Jugendlichen allenfalls
aus ihren Geschichtsbüchern kannten. Dass nun eins der Mädchen oder Jungen den Videorekorder in Gang zu setzen vermochte,
war also ein Ding der Unmöglichkeit. Ich wäre früher, als Schüler, schließlich auch nicht in der Lage gewesen, einen Morseapparat
zu
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