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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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durchkommen!» Sehr
     verbreitet war zudem die Beteuerung, eigentlich gar nicht Lehrer werden, sondern sich mit dem Zweiten Staatsexamen lediglich
     eine zusätzliche Option zum Beruf des Künstlers erschließen zu wollen. Leider bestand für mich diese Option nicht, da ich
     kein Künstler war. Ein Referendar trieb die selbstschutzindizierte Abgrenzung von seinem eigentlichen Berufswunsch |228| gar so weit, dass er zur Prüfungskommission meinte: «Ach, wissen Sie, ich muss nicht unbedingt Lehrer werden. Ich kann auch
     jederzeit bei meinem Bruder in der Sauna anfangen.» Als er dann tatsächlich nicht bestand, versank er in einer tiefen Depression
     mit Selbstmordversuch. Ich weiß nicht, wie ich auf ein Durchfallen reagiert hätte, aber wohl kaum gelassen. Denn selbst meine
     bestandene Prüfung schockte mich nachhaltig, weil ich mich viel zu ungerecht benotet fühlte. Und schon lange vor dem Examen
     hatten mich meine Selbstschutzstrategien im Stich gelassen:
Es ist nur eine Prüfung! Es ist nur eine Prüfung! Es ist nur eine Prüfung! Stephan , mach dich nicht verrückt! Selbst wenn du es nicht schaffst, egal ! Du willst doch sowieso nicht Lehrer werden. Es ist nur eine Prüfung! Dein Wert als Mensch bemisst sich nicht an deinem Zweiten
     Staatsexamen! Du bist trotzdem ein Mensch!
Täglich hatte ich mich mit diesem Mantra zu beruhigen versucht. Ohne Erfolg. Für Autosuggestion war ich einfach nicht geschaffen.
    Überhaupt waren die letzten Monate die Hölle gewesen. Bereits acht Wochen vor meiner Prüfung am 20.   Mai hatte ich das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen. Eine Woche darauf hatte sich Melanie von mir getrennt, weil sie nicht
     mehr mit einem Mann zusammensein wollte, der mittlerweile gar keine Stärken mehr besaß, sondern ausschließlich Schwächen.
     Weil sie es leid war, mich immer nur aufbauen zu müssen. Den letzten Kontakt zu Menschen außerhalb des Universums Schule hatte
     ich am 20.   April, als ich meinen Vater zu seinem Geburtstag besuchte. Immerhin raffte ich mich am 1.   Mai noch zu einem Telefonat mit meiner Mutter auf. Um sie zu bitten, mich bis zum 20.   Mai nicht mehr zu stören.
    Sämtliche folgenden Nachmittage und Nächte hatte ich vor dem Computer verbracht, an den Wochenenden auch die Vormittage. Essen
     hatte ich mir bringen lassen, weil es zu lange gedauert hätte, |230| selbst welches zuzubereiten. Saft, den ich in der Küche vergossen hatte, war bis nach dem 20.   Mai auf dem Boden kleben geblieben, so sehr waren meine Gedanken vom Tag X eingenommen.
    Die Prüfungsvorbereitungen hatten auch meinem Körper noch in einem besonderen Maße zugesetzt. Schon vor dem Referendariat
     hatte mich ein seltsamer chronischer Druck in der Bauchgegend belastet, den keiner der aufgesuchten Gastroenterologen zu erklären
     oder gar zu heilen vermochte. Vor jedem Unterrichtsbesuch meines Hauptseminarleiters und meiner Fachseminarleiterinnen hatte
     ich in den vergangenen zwei Jahren diarrhöbedingt tagelang auffällig oft die Toilette aufsuchen müssen. Und im letzten Monat
     vor meiner Prüfung nahm mein Haarausfall bedenkliche Ausmaße an. Mittlerweile bereitete es mir Mühe, meine Haare so zu legen,
     dass man nicht von einer Halbglatze sprechen konnte. Dabei hatte ich sie vor dem Referendariat zu einem Zopf binden können.
    Und dann war da noch das Schwitzen. Seit Anfang April war ich jeden Morgen völlig klatschnass und durchgeschwitzt erwacht.
     Ich hatte in der Nacht so viel Flüssigkeit verloren, dass es mir ein Rätsel gewesen war, wieso ich nicht vertrocknete und
     für den Tag überhaupt noch Schweiß übrig blieb. Eigentlich hätte meine Haut brüchig werden und ich zu Staub zerfallen müssen.
     In der Schule hatte ich nur noch Schwarz getragen, damit ich meine Kleidung nicht ständig wechseln musste. Die Schüler hätten
     es sicherlich seltsam gefunden, wenn ich sie alle fünf Minuten aufgefordert hätte: «So, Augen zu! Jetzt machen wir eine Fantasiereise.
     Stellt euch vor, ihr seid an einem weit entfernten Ort! Ich sag euch Bescheid, wenn ihr die Augen wieder öffnen dürft» – nur
     um in der Zwischenzeit ein frisches Shirt oder Hemd anzuziehen. Dennoch hatte ich mich kaum getraut, meine Arme zu heben,
     denn vielleicht sah man trotz des dunklen Outfits doch etwas. Meine Motorik war folglich etwas eingeschränkt gewesen, |231| aber wahrscheinlich hatten die Schüler sowieso gerochen, dass ich prüfungsbedingt nicht mehr ganz frisch war.
    Am Prüfungstag, mit Beginn

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