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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Serin
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Rede stellen. Das Ausmaß
     an Vandalismus und Gewalt an dieser Schule ist nicht mehr tolerabel. Einige von Euch scheinen vergessen zu haben, dass wir
     uns hier auf einem Gymnasium befinden und nicht in Afghanistan oder im Irak. Ihr wollt hier Euer Abitur machen. Doch das Verhalten
     einiger von Euch lässt mich daran zweifeln, ob Ihr dazu willens und in der Lage seid. So macht es mir jedenfalls keinen Spaß
     mehr, Direktor an dieser Schule zu sein. Und den Lehrern macht es immer weniger Spaß, hier ihren Dienst zu verrichten. Denkt
     daran, wenn Ihr das nächste Mal Eure Faust erhebt. Gezeichnet: Stern.
     
    Den angesprochenen Schülern müssen ob dieser Worte vor Angst die Knie geschlottert haben. Am Tag nach dem Anbringen dieser
     Notiz hatte jemand Sterns Unterschrift durchgestrichen und durch das Wort «Gandhi» ersetzt. Vielleicht sogar ein Lehrer. Es
     war ohnehin sehr ungewiss, ob überhaupt ein Schüler das Schreiben komplett gelesen und verstanden hatte, da es in seiner Länge
     deutlich alles überbot, was an Texten im Unterricht behandelt wurde. Es hätte sich in Stil und Länge besser an einer SMS orientieren
     sollen:
Hi . Einer hat Frau Rösel geschlag. Das ist nicht lol. CU. Stern .
    Nur ganz wenige Menschen hatten von Herrn Stern überhaupt etwas zu befürchten: Referendare, die bei ihren Ausbildern nicht
     wohlgelitten waren. Denn er schloss sich grundsätzlich der |226| Meinung der Seminarleiter an, verstärkte sogar noch deren Kritik, weil er nicht den Mut besaß, gegen die Ausbilder eine eigene
     Meinung zu vertreten. Es war somit ziemlich ausgeschlossen, dass Herr Stern, wenn es um meine Note für die beiden Examensstunden
     ging, in der Prüfungskommission freiwillig für mich Partei ergreifen würde. Dennoch brauchte ich jede Stimme, gerade weil
     Herr Schubert und Frau Stahl eher wenig von mir hielten. Da ein Werben um seine Gunst von meinem Direktor sicher als Schwäche
     ausgelegt werden würde, blieb eigentlich nur ein Mittel: Erpressung. Zum Glück wusste ich, dass Herr Stern einst bei der Stasi
     war. Das hatte mir ein Freund berichtet, der zu DD R-Zeiten bei ihm Physikunterricht gehabt hatte. Genau genommen hatte er gemeint, es würde ihn bei Herrn Stern nicht verwundern, wenn
     dieser bei der Stasi gewesen wäre. Vorstellen konnte ich es mir, denn er tratschte immer sofort alles weiter, was anderen
     schadete. Zudem konnte man Restzweifel nie ausschließen, selbst wenn etwas vermeintlich bewiesen war.
    Meine Klassen hatte ich bereits über die Verstrickungen ihres Direktors in ein Unrechtsregime informiert. Sollte ich jetzt
     schlechter als 2,4 abschneiden, würde auch die Prüfungskommission davon erfahren. Diese Warnung wollte ich Herrn Stern, während
     er mich zum Vorbereitungsraum für die noch ausstehende mündliche Prüfung führte, mit auf den Weg geben. Doch irgendwie brachte
     ich die Drohung dann doch nicht über die Lippen. Als er sich zur Beratung über die Noten verabschiedete, war ich nur imstande,
     folgende Worte zu sagen: «Bis dannchen!»
    Zu Hause, Freitag, 21.04   Uhr
    Ich: Du, ich kann jetzt nicht telefonieren   … Na, weil ich ’ne Lehrprobe hab   … Donnerstag. Ja   … Versprochen!

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Nächste Ausfahrt Jobcenter
    Als ich kurz vor der dritten Stunde den Raum 104 aufschloss, bedrängten mich alle Schüler der 11a, die ich in Französisch
     unterrichtete, mit derselben Frage: «Und, haben Sie bestanden?» Es ging um meine Staatsexamensprüfung, die ich am Tag zuvor
     abgelegt hatte. Ich kam nicht dazu, auch nur einen Satz zu Ende zu sprechen: «Ja   …», setzte ich an, und umgehend brachen Essraa, Ailyn und Nedime in einen ohrenbetäubenden Gesang aus, der zehn Minuten nach
     Beginn der Unterrichtsstunde noch nicht verebbt war und der begleitet wurde von einer Streetdance-Performance, mit der die
     Mädchen beim Casting zu
Germany’s Next Dancestar
gute Chancen hätten. Eigentlich hatte ich tief verbittert und sarkastisch erklären wollen: «Ja, ich habe bestanden, aber mit
     einem Notendurchschnitt, der mich ein Leben lang davor bewahren wird, als Lehrer arbeiten zu müssen.»
    Das Absurde an meiner Enttäuschung war, dass ich mir vor meiner Prüfung und das ganze Referendariat hindurch eingeredet hatte,
     schon zufrieden zu sein, wenn ich überhaupt bestehen würde. Aber mit diesem Widerspruch stand ich nicht allein da. Die meisten
     Lehramtsanwärter hatten im Vorfeld des Staatsexamens für sich nur ein Minimalziel formuliert: «Einfach nur

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