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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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Todestrakt und warten auf ihre Hinrichtung. Viele Menschen kritisieren nicht nur die tatsächliche Praxis der Hinrichtung als grausam, sondern auch, dass die Verurteilten so lange mit ihrem bevorstehenden Tod konfrontiert sind. Denn bis alle rechtlichen Mittel der Revision ausgeschöpft sind, können Jahre oder gar Jahrzehnte vergehen. Paradoxerweise ist dadurch die Lebenserwartung eines Todeskandidaten höher als die eines Drogendealers in einer amerikanischen Großstadt, der früher oder später bei Territorialkämpfen erschossen wird, wie der indisch-amerikanische Soziologe Sudhir Venkatesh gezeigt hat.
    Der Tod verkürzt das Leben. Der zum Tode Verurteilte und der Drogendealer müssen mit einem verkürzten Leben rechnen. Der Verurteilte kann sein verbleibendes Leben nicht wie ein gewöhnlicher Insasse leben, weil er sein Ende immer vor Augen hat. Ein Straßendealer kann auch damit rechnen, dass er nicht länger als zehn Jahre zu leben hat. In diesem Punkt gleichen beide Perspektiven einander. Und dennoch scheint der Gedanke an einen erwartbaren, aber nicht festgelegten Tod leichter erträglich.
    Bei Licht betrachtet, sind wir natürlich alle von Geburt an zum Tode verurteilt. Einige Forscher gehen sogar davon aus, dass wir schon mit der Verschmelzung von Samenzelle und Ei zu altern beginnen. Spätestens jedenfalls, wenn wir nicht mehr wachsen, wird das Altern zu einer tödlichen Krankheit: Wir vergreisen. Mit jedem Atemzug, jedem Bissen und jedem Schluck Wasser schaden wir unseren Zellen. Zwar gelangen lebensnotwendige Stoffe in unseren Körper, aber gleichzeitig zerstört dieser Stoffwechsel die Struktur der Zellen. Sie reparieren sich nämlich auf Dauer nur unzureichend: Unser Haar ergraut und fällt aus, die Haut wird faltig und fahl, die Gelenke verschleißen, der Lungenaushub nimmt ab, und das Zahnfleisch bildet sich zurück.
    Der Alterungsprozess ist einer der am wenigsten verstandenen Vorgänge der Natur. Weil man die Zellschäden auf Oxidation zurückführen kann, war die
Schadenstheorie
des Alterns lange Zeit dominant in der Biologie. Allerdings kann sie zwar die Mechanismen des Verfalls aufzeigen, aber nicht erklären, warum die Zellreparatur ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch so dürftig funktioniert.
     
    Die Lebenserwartung des Menschen hat sich durch Fortschritte in der Medizin und durch eine bessere Ernährung im letzten Jahrhundert fast verdoppelt. Dennoch sind sich die Forscher einig, dass Menschen heutzutage selbst unter idealen Bedingungen kaum älter als 120  Jahre werden können. Für Langlebigkeit könnte ein seltenes Gen zuständig sein, wie vergleichende Studien an Hundertjährigen gezeigt haben. Doch auch diese hochbetagte Spezialeinheit der Menschheit ist dem Tod geweiht.
    Einige Lebewesen altern nicht und könnten daher im Prinzip unendlich lange leben, beispielsweise Süßwasserpolypen, Seegurken, Pilze und die Qualle
Turritopsis nutricula
, die sich in der ewigen Pubertät befindet: Nachdem sie die Geschlechtsreife erreicht hat, kann sie sich wieder in den Zustand der Kindheit zurückentwickeln. Das geht beliebig oft hin und her, wenn nichts dazwischenkommt.
    So ist nicht nur das Altern unverstanden, sondern auch dessen evolutionäre Funktion. Denn während sich die ersten Lebewesen auf der Erde bloß teilten, setzte das genetisch gesteuerte Altern erst spät in der Entwicklungsgeschichte ein. Welchen Vorteil könnte es also für unsere Vorfahren gehabt haben? Einem Ansatz zufolge ist der programmierte Tod zwar schlecht für das Individuum, doch gut für die Spezies, denn wer sich schon fortgepflanzt hat, nimmt der nachwachsenden Generation die Rohstoffe weg. Wenn die Alten also von selbst sterben, ist mehr für die Nachfahren da. Problematisch an dieser These ist allerdings, dass viele Beutetiere in der Wildbahn gefressen werden, bevor sie an organischen Ursachen sterben würden. Im Zoo leben sie zwar deutlich länger, sind aber dennoch nicht unsterblich. Die Frage lautet also: Warum läuft selbst bei diesen Tieren der biologische Todesplan ab, wenn sie ihn doch gar nicht benötigen? Vermutlich ist der Grund profaner: Perfekte Zellreparatur kostet viel Energie. Die benötigen komplexe Lebewesen wie Wirbeltiere aber vor allem, um sich gegen Verletzungen durch Angriffe zu schützen. Von unseren Vorfahren haben also eher diejenigen überlebt, bei denen die Außenheilung, beispielsweise die der Haut, im Vordergrund stand. Und das ging dann auf Kosten der Organheilung.
    Ewige Jugend

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