Folge dem weißen Kaninchen
sein!» So stellt Nietzsche fest, wie eigenartig es sei, dass die Menschen in ihren Tagesgeschäften so selten an den Tod denken, obwohl er uns allen gewiss ist.
Wenn wir an unsere Sterblichkeit denken, fragen wir selten, ob unser Leben eine Bedeutung hat, die hinausgeht über die Bedeutung, die es in jedem Moment für uns selbst hat. Wir alle wissen, dass wir sterblich sind. Doch dieses Wissen ist abstrakt: Es ist leicht in Worte zu fassen, doch schwer zu begreifen. Selbst wenn wir uns den Tod vor Augen führen, bleibt der Gedanke oft folgenlos. Wir haben bloß eine Ahnung, wir spüren ein Frösteln, wenn uns für einen Moment in dieser besonderen Weise ganz bewusst ist, dass alles ein Ende hat.
Im Alltag werden wir oft an den Tod gemahnt, beispielsweise durch Flutopfer oder Kriegstote in den Nachrichten. Und doch bleiben wir merkwürdig unbeteiligt dabei. Viel stärker trifft es uns, wenn wir die Sterblichkeit nah und direkt, fast körperlich, erfahren: durch einen Unfall vor der eigenen Haustür, eine schwere Krankheit oder den Tod von Verwandten. Vor einigen Generationen starben Menschen noch daheim in ihren Betten: Erwachsene an Tuberkulose oder Altersschwäche, Kinder an Diphtherie oder schon bei der Geburt. Das Sterben war sicherlich so schrecklich wie heute, aber Teil der alltäglichen Erfahrung. Heute ist es meist ausgelagert in Krankenhäuser und Seniorenheime.
Sobald man über das Sterben nachdenkt, das eigene und das der anderen, finden sich überall Anzeichen, dass der Tod das Leben begrenzt. Die Endlichkeit ist seit jeher ein zentrales Thema in den Künsten und der Literatur. Tausendfach variiert die bildende Kunst das
Vanitas-Motiv
, die Vergänglichkeit alles Irdischen: die Sanduhr, der sterbende Schwan, Stillleben mit Trockenblumen, Obst und abbrennenden Kerzen. Schädel auf T-Shirts gedruckt oder diamantenbesetzt am Ringfinger. Haie in Formalin, Skelette in den Reliefs gotischer Kirchen und im Emblem von Nachtclubs. All diese Symbole sagen: «Memento mori!» – Bedenke, dass du sterben musst!
Ob nur versteckt und angedeutet oder deutlich und drastisch: Der Tod ist ebenso Thema der Weltliteratur. Dort verweisen oft schon die Titel auf Unheil und Verfall:
Tod in Venedig
,
Dantons Tod
,
Die Pest
,
In der Strafkolonie
,
Krieg und Frieden
,
Verbrechen und Strafe
,
Les Miserables
,
Endspiel.
Auf eigenartige Weise erschrecken und faszinieren uns Tod und Tote, sodass wir bei aller Fremdheit nicht von dem Thema loskommen. Doch warum?
Tote und Tabu
In Thomas Manns
Zauberberg
betrachtet der junge Hans Castorp seinen gerade verstorbenen Großvater. Ihn beeindruckt die «feierlich-geistliche» Dimension des Todes: der aufgebahrte Großvater inmitten von Blumen und Palmenwedeln. Gleichzeitig ekelt er sich vor dem Leichnam: «Der kleine Hans Castorp betrachtete den wachsgelben, glatten und käsig-festen Stoff, aus dem die lebensgroße Todesfigur bestand, das Gesicht und die Hände des ehemaligen Großvaters. Eben ließ eine Fliege sich auf die unbewegliche Stirne nieder und begann, ihren Rüssel auf und ab zu bewegen.» Dabei meint Castorp eine «ganz eigentümliche Ausdünstung zu verspüren».
Der französische Anthropologe Pascal Boyer nimmt an, dass der Leichnam schon seit den Anfängen der Menschheit die Hinterbliebenen in dieses von Castorp empfundene Gefühlsparadox gestürzt hat. Die Leiche aktiviert zwei Informationssysteme in unserem Geist. Zum einen das System «Person», denn der Tote hat gerade noch geatmet. Freunde und Verwandte sehen ihn wie einen Lebenden. Der Anblick ruft all die positiven Erinnerungen, die ganze «Personenkartei», ins Gedächtnis, wie Boyer sagt. Gleichzeitig schaltet sich aber auch das System «Gefahr» ein, denn unsere angeborene Scheu vor toten Wesen unterscheidet nicht zwischen Menschen und anderen Tieren. Wer schon einmal einen Kadaver gerochen hat, weiß, wie unmittelbar und körperlich dieser Abwehrmechanismus einsetzt.
So streiten zwei Neigungen in uns: Wir wollen die verstorbenen Verwandten und Bekannten berühren und umarmen, doch gleichzeitig schrecken wir vor dem Leichnam zurück und wollen uns abwenden. Die angeborene Angst vor Toten ist Boyer zufolge evolutionär begründet, denn sie hat befördert, dass Menschen Leichen mit ihren Krankheitserregern mieden. Das Motiv des ansteckenden Un-Toten findet sich übrigens in vielen Kulturgeschichten, bis hin zu den Vampirmythen und Zombiefilmen unserer Zeit.
Wenn wir auf den Leichnam blicken, sehen wir immer
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