Folge dem weißen Kaninchen
Lebens verlieren wir alles, was wir wertschätzen: Wahrnehmen, Fühlen, Denken. So argumentiert der amerikanische Philosoph Thomas Nagel. Er behauptet sogar, dass wir diese Bewusstseinszustände selbst dann wertschätzen, wenn sie durchgehend negativ ausfallen, fast so, als lebten wir nach der Devise: Ob Spaß oder Schmerzen – Hauptsache, was erleben. Vermutlich ist das etwas übertrieben, denn ein kranker, einsamer und depressiver Mensch könnte einen guten Grund haben, lieber tot zu sein. Doch normalerweise hängen wir alle an unserem Leben, und sei es nur wegen der kleinen Freuden des Alltags.
Nagels englischer Kollege Bernard Williams argumentiert ähnlich: Zumindest der verfrühte Tod ist schlecht, weil er uns die Möglichkeit nimmt, unsere Wünsche umzusetzen. Und die treiben uns an und geben unserem Leben einen Gehalt. Ein Wesen ohne Wünsche wäre apathisch und gar nicht lebensfähig. Nagel und Williams stellen also dem subjektiv erlebten
Leiden
das objektive
Leid
gegenüber, das auch «Übel» oder «Unglück» genannt wird: Weil er uns etwas nimmt, fügt der Tod uns ein Leid zu, auch wenn wir ihn nicht erleiden.
Wer will ewig leben?
Williams geht noch einen Schritt weiter. Ihm zufolge ist
allein
der zu frühe Tod ein Übel. Erst die Sterblichkeit gebe dem Leben eine Bedeutung. Nur wer weiß, dass alles ein Ende hat, nimmt seine Ziele ernst und will etwas erreichen. Damit vertritt Williams die dritte, die positive Sicht auf den Tod. Um die genauer zu verstehen, muss man sich erst einmal klarmachen, was es heißt, unsterblich zu sein.
Die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir beschreibt in ihrem Roman
Alle Menschen sind sterblich
die Figur Raimon Fosca, der als Unsterblicher schon seit Jahrhunderten auf der Erde wandelt. Fosca hat ein teilnahmsloses Gesicht. Er empfindet alles als langweilig und bedeutungslos: sein Leben und besonders die alltäglichen Aufgeregtheiten der Sterblichen um ihn herum.
De Beauvoir zählt mit ihrem Lebensgefährten Jean-Paul Sartre und mit Albert Camus zu den wichtigsten Vertretern des
Existenzialismus
, einer halb philosophischen, halb literarischen Strömung in der französischen Nachkriegsphilosophie. Die Existenzialisten begeisterten sich für Themen der menschlichen Lebensführung: Freiheit und Zwang, Entfremdung und Authentizität und, wie der Name schon sagt, Sinn und Unsinn der menschlichen Existenz. De Beauvoirs Figur Fosca erlebt die vermeintliche Leere des Lebens besonders eindringlich, weil sich für ihn alles tausendfach wiederholt. Seine Unsterblichkeit ist kein Segen, sondern ein Fluch.
Williams zielt in die gleiche Richtung wie de Beauvoir. Das Wissen um die eigene Sterblichkeit ließe unser Leben erst bedeutungsvoll erscheinen, denn wären wir unsterblich, würden uns früher oder später Langeweile und Antriebslosigkeit erfassen: Jede Handlung könnten wir aufschieben, nichts müsste erledigt werden, alle Ziele verlören ihre Dringlichkeit. Wer so argumentiert, denkt an Figuren wie Fosca, kennt aber nicht den Film
Highlander
aus dem Jahr 1986 , geschweige denn die Science-Fiction-Reihe
Perry Rhodan
, von der mehr als eine Milliarde Hefte verkauft wurden. Der Astronaut Perry Rhodan, geboren im 20 . Jahrhundert, erhält von höheren Wesen einen «Zellaktivator», der ihm ewige Jugend garantiert. In den darauffolgenden 3000 Jahren kommt keine Langeweile auf. Im Gegenteil: Er kolonialisiert die Galaxie, wird Präsident der Menschheit und kämpft gegen Riesenameisen und andere bizarre Außerirdische. Warum soll das verlängerte Leben routiniert und langweilig werden?
So fragen auch Nagel und sein amerikanischer Kollege John Martin Fischer. Williams hat auf diesen Einwand allerdings eine Antwort. Ihm zufolge ist es eine Frage der Ereignisdichte und der Länge. Spätestens nach Jahrmillionen würde sich alles wiederholen, weil es nichts mehr zu entdecken gäbe. Auch diese These ist fraglich. Immerhin entstehen jeden Tag aufs Neue grundlegende Wünsche in uns: Von Sex und gutem Essen können wir gar nicht genug kriegen. Schokolade beispielsweise schmeckt immer gleich, und dennoch können wir täglich Lust darauf haben. Warum soll das nicht in alle Ewigkeit so weitergehen?
Auch unsere langfristigen Wünsche und Pläne müssen nicht im Angesicht der Unsterblichkeit verschwinden. Wir wollen ja nicht deshalb studieren oder einen Beruf ergreifen, weil wir immer vor Augen haben, dass wir sterben müssen. Wenn das Wissen um die
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