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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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noch die Person, obwohl bloß ihr funktionsloser Körper zurückgeblieben ist. Ein Kollege von mir meinte einmal: Vor dem offenen Sarg sagt die Trauergemeinde zwar: «Da liegt Opa», philosophisch korrekt wäre aber: «Da ist die Substanz, die von dem übrig geblieben ist, den wir früher ‹Opa› genannt haben.»
    Boyer weist nach, dass sich nur in den wenigsten Kulturen eine Reflexion über die eigene Existenz und die Sterblichkeit findet, auch wenn der Tod überall ein Thema ist. Der Tod war immer der Tod eines anderen als konkretes Ereignis. Boyer vermutet, dass die frühen Jägerkulturen wenig Zeit hatten, den Tod ihrer Verwandten zu zelebrieren. Erst mit der Sesshaftigkeit entwickelten die Menschen Kulte. Dabei sei der Leichnam das zentrale Motiv gewesen. Bestattungsrituale entstanden nicht aus Furcht vor dem Tod, so Boyer, sondern vor allem aus Furcht vor den Toten.
     
    Der Zwiespalt zwischen Abscheu und Zuneigung zeigt sich besonders deutlich in den aufwendigen Bestattungsmethoden der Kulturgeschichte: Irgendwie wollten die Menschen die Person erhalten und gleichzeitig die Verwesung des Leichnams verhindern oder auslagern. Die altägyptische Kunst der Einbalsamierung kann als Versuch gelten, den Menschen durch Konservierung seiner Überreste zu bewahren. Andere Kulte haben sich weiter vom Leichnam entfernt: Totenmasken aus Ton oder aus Metall, wie die sogenannte «Goldmaske des Agamemnon» aus Mykene, verewigen nur noch das Gesicht des Verstorbenen, während die leiblichen Überreste längst verschwunden sind.
    Diese Abstraktion ist über Jahrtausende fortgeschritten: Bald ersetzte die Schrift auf Grabsteinen den Maskenkult. Der Stein konserviert nicht mehr den Menschen oder seine Gestalt, sondern allenfalls die Erinnerung an ihn. Heutzutage finden sich auf Friedhöfen sogar Platten, die nicht einmal mehr einen Namen tragen und so nur die Eingeweihten an die Verstorbenen erinnern. Übrigens hat Groucho Marx den Gräberkult ganz in seinem Sinne gedeutet. In einem Interview meinte er einmal, man solle ihn direkt über Marilyn Monroe begraben mit der Inschrift: «Pardon, aber ich kann nicht aufstehen!» Peter Ustinov wünschte sich als Epitaph: «Rasen betreten verboten!»
    Manche Grabesbräuche wirken seltsam und provozieren eine ironische Distanz. Nicht nur im Altertum suchten Angehörige auf ungewöhnlichen Wegen eine besondere Nähe zu ihren Verstorbenen. Dieses Phänomen findet sich auch in unserer Zeit. Angeblich haben Freunde des erschossenen Rappers Tupac Shakur dessen kremierte Überreste geraucht, um ihn damit zu ehren. Das hat im Musikgeschäft Tradition: Keith Richards von den
Rolling Stones
hat in einem Interview behauptet, er habe die Asche seines Vaters zusammen mit einer Prise Kokain geschnupft – auch eine Art, seinen Liebsten ganz nah zu sein.
    Nicht nur der Leichnam, auch das Ereignis des Todes war ein starker Kulturgenerator. Der natürliche Tod, bei dem äußerlich sichtbare Einwirkungen fehlen, blieb über Jahrtausende unverstanden. Da Menschen dazu tendieren, das Rätselhafte und Abstrakte durch das Bekannte und Konkrete zu erklären, versinnbildlichten sie den Tod als Killer. In der europäischen Kultur greift der Gevatter daher gerne zur Sense. Noch heute können wir übrigens mit dem Tod wie mit einem Menschen «ringen» und «kämpfen». Dass der personifizierte Tod wie ein Toter aussieht, versteht sich von selbst.
    Obwohl die Biologie des Sterbens heute besser verstanden ist als in den Jahrtausenden zuvor, bleibt der Tod eines der letzten
Tabus
unserer Gesellschaft. Ein Tabu ist, worüber man nicht denken und sprechen darf. Die Klassiker waren immer: Götter, Geld, Sex, Ausscheidungen und eben der Tod. Das zeigt sich in den unzähligen
Tabuismen
, also Wörtern, die man anstelle der verbotenen verwendet. Wir sprechen vom «Beischlaf» und «Liebesspiel», wenn es doch nur um Sex geht. Früher sagten die Menschen «Igitt» statt «O Gott», weil sie Angst vor dem Wort «Gott» hatten, oder sie sprachen von dem «Herrn». Und wir «sterben» nicht einfach, sondern wir «entschlafen». Inzwischen scheut sich kaum noch jemand, über Gott, Geld oder Sex zu sprechen. Der Tod ist ein Tabu geblieben, ein Thema, bei dem sich die Stimmen senken und die Rede ins Stocken gerät. Dennoch:

Was ist der Tod?
    Nehmen wir an, Onkel Toby stürzt und fällt so unglücklich, dass sein Herzschlag aussetzt. Die Sanitäter treffen schnell am Unfallort ein. Sie reanimieren ihn durch eine Herzmassage. Im

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