Folge dem weißen Kaninchen
konnte, die große runde Lampe über mir. Vielleicht hatte ich während der Operation Gefühle oder Gedanken. Daran konnte ich mich jedenfalls nicht erinnern. Rückblickend hatte ich den Eindruck, dass mein Bewusstsein während der Narkose ausgelöscht war. Wenn man so will, habe ich für eine Zeit aufgehört zu sein.
Wenn wir über den Tod nachdenken, nehmen wir oft die
Außenperspektive
ein. Wir stellen uns vor, wie wir im Sarg liegen und unsere Freunde und Verwandte um unser Grab herumstehen. Für die Philosophie des Todes ist allerdings die
Innenperspektive
entscheidend, genauer, dass es keine Innenperspektive mehr gibt. Daher können wir uns den Tod auch nicht bildlich vorstellen, denn jede Vorstellung setzt uns als denkende Personen voraus. Wer schon einmal ohnmächtig oder narkotisiert war, kann allenfalls die Zeitspanne des Nicht-Seins rekonstruieren: Da war einfach gar nichts da, an das man sich erinnern könnte. «Den Tod erlebt man nicht», sagt Wittgenstein. Der Tod ist die Negation jeglichen Erlebens.
Wie kann man diese Negation fürchten?, fragt der antike griechische Philosoph Epikur, der prominenteste Vertreter der Todesgleichgültigen. Sein Argument ist ganz einfach: «Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir sind, ist der Tod nicht, und wenn der Tod ist, sind wir nicht mehr.» Wichtig für diese Position ist der Unterschied zwischen
sterben
und
tot sein
. Wer im Sterben liegt, mag Schmerzen oder Angst haben. Aber das Ereignis des Todes ist der Wechsel von Existenz zu Nichtexistenz. Die Person verschwindet. Wenn niemand mehr da ist, der etwas spüren kann, haben auch «negativ» und «positiv» gar keine Anwendung. So zumindest denkt Epikur.
Ein berühmter Vorläufer von Epikur war Sokrates, der den Tod ebenfalls nicht fürchtete, allerdings aus anderen Gründen. Sokrates wird zum Tode verurteilt, weil er angeblich die Jugend verdorben und gegen die Götter gefrevelt habe. Eine Gelegenheit zur Flucht schlägt er aus. In seiner von Platon aufgezeichneten Verteidigungsrede, der
Apologie
, führt Sokrates ein Argument für seine These an, dass Philosophieren heiße, sterben zu lernen. Er kann sich gar nichts Großartigeres vorstellen, als in der Unterwelt mit den Seelen der Toten in alle Ewigkeit zu diskutieren. Seine Rede schließt er mit den Worten: «Jedoch, es ist Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen, außer Gott.» Dann trinkt er aus dem Giftbecher und stirbt. Platon zufolge hatte Sokrates keine Angst vor dem Tod – vermutlich weil er an eine Existenz danach glaubte.
Doch für die von uns, die nicht daran glauben: Ist es so abwegig, den Tod zu fürchten? Sicher, ich habe während der Narkose nichts gespürt, aber dennoch bin ich heute froh, dass ich wieder erwacht bin, auch wenn
ich
meinen Tod nicht mitbekommen hätte. Was wäre mir alles vorenthalten geblieben? Epikur hat recht: Wir können das Nichtsein nicht erleiden. Aber wir fürchten ja nicht den Zustand, in dem wir nicht mehr sind, sondern eher die Tatsache,
dass
wir einmal nicht mehr sind.
Ein späterer Verfechter der epikureischen Gleichgültigkeit ist der römische Philosoph Lukrez, der zur Zeit von Julius Caesar gelebt hat. Lukrez stellt fest, dass jedes Leben zwischen zwei unendlich langen Phasen der Nichtexistenz liegt. Sein
Symmetrieargument
sagt: Wenn uns jetzt die Nichtexistenz vor unserer Geburt nicht stört, warum sollte uns die nach dem Tod stören? Auch dieses Argument klingt zunächst plausibel. Doch irgendwie kann es weder unsere Todesfurcht noch unseren Lebenswillen auslöschen, denn einmal von der süßen Frucht gekostet, möchten wir immer weiter essen.
Außerdem: Was kümmert mich die Vergangenheit? Irgendwie haben wir diese «Voreingenommenheit» gegenüber der Zukunft, wie der englische Philosoph Derek Parfit sagt. Uns ist wichtiger, was kommen wird, und nicht, was war. Wir wollen lieber, dass das Schlechte hinter und das Gute vor uns liegt. Eine Freundin von mir sagt: Der Tod ist demokratisch, denn irgendwann erwischt er jeden. Zugegeben, das ist fair – und trotzdem ungerecht. Warum muss ich gehen, wenn es gerade so schön ist? Das ist ein bisschen so, als dürfte ich nicht mit auf die gemeinsame Klassenfahrt.
Im Gegensatz zu Epikur und Lukrez halten einige moderne Philosophen den Tod für negativ, weil er uns unserer Möglichkeiten beraubt. Mit dem Ende des
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