Folge dem weißen Kaninchen
inwiefern kann man überhaupt von «Sinn» sprechen?
Sinn und Sinnlichkeit des Lebens
Keine Frage gilt als so zentral für die Philosophie wie die nach dem
Sinn des Lebens
und wird dabei tatsächlich so selten diskutiert. Philosophen gehen bei der Beantwortung typischerweise durch vier Phasen. In der naiven Phase zerbricht man sich den Kopf, was nun die Antwort sein könnte: Glück, Kinder zeugen, etwas erschaffen, die Welt retten? In der zweiten, der trotzigen Phase fällt die Antwort kurz und vernichtend aus: «Es gibt keinen Sinn.» In der arroganten Phase weist man die Frage als verwirrt ab, oder als falsch gestellt. Erst in der vierten Phase, der wohlwollenden, fragt man, was «Sinn» und «Leben» eigentlich heißen sollen.
Mit «Sinn» können wir viel meinen, unter anderem den
Wert
, also das, was uns wichtig ist, oder aber den
Zweck
, also das, wofür etwas erschaffen wurde. Auch «Leben» hat mehrere Lesarten. Manche meinen das
eigene Leben
, andere verwenden «Leben» stellvertretend für die
Existenz des Ganzen
.
Bleiben wir beim eigenen Leben. In Anschluss an Aristoteles kann man zwei Diskurse zur Lebensführung unterscheiden: den
Befindlichkeitsdiskurs
und den
Leistungsdiskurs
. Der Befindlichkeitsdiskurs betont die Sinnlichkeit und das Wohlfühlen. Er lebt von der steten Selbstvergewisserung über die eigene Gestimmtheit: Tut mir mein Job gut? Was sagt mein Bauch? Macht mir das Wetter zu schaffen? Brauche ich eine Massage? Zum Befindlichkeitsdiskurs gehören auch die Ästhetisierung des eigenen Lebens und deren Dokumentation: Beweisfotos auf
Facebook
vom sonnigen Strandurlaub, der lustigen Party, der schönen Stadt und dem feinen Abendessen auf dem perfekten Designtisch.
Den Befindlichkeitsdiskurs bedienen vor allem die Glücksbücher und Wochenendseminare der Lebensberatungsindustrie. In der Antike galt es noch als Aufgabe der Philosophie, anderen Menschen Ratschläge zu erteilen. Heute haben das vor allem Psychologen und psychologisch Interessierte übernommen. Die Empfehlungen reichen vom Seelenfrieden durch Meditation bis hin zu ganz handfesten Anweisungen: «Vereinfache dein Leben – miste den Keller aus!» Die psychologische Glücksforschung, auf die sich die Berater manchmal beziehen, hat übrigens weitgehend bestätigt, was unsere Großeltern schon immer wussten. Die Kurzfassung: kleine Augenblicke bewusst erleben, einen engen Freundeskreis pflegen, Kinder großziehen und die Familie zusammenhalten, die Natur genießen, seinen Mitmenschen eine Freude machen, nicht zu viel auf Äußerlichkeiten geben und sich nicht zu sehr mit anderen vergleichen. Außerdem: Blumen, Musik, Sport und gesunde Ernährung. Klingt wie das totale Spießerleben. Ist aber der sicherste Pfad zum Lebensglück.
Der englische Philosoph John Stuart Mill meinte, der Mensch strebe immer nach Glück im hedonistischen Sinn: nach Lust. Dazu hat Nietzsche polemisch bemerkt: «Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das.» Wenn wir ehrlich sind, suchen wir weit mehr als nur Wohligkeit, nämlich einen Sinn, eine höhere Aufgabe. In diese Richtung argumentiert auch der amerikanische Philosoph Robert Nozick: Kein vernünftiger Mensch würde sich an eine Maschine anschließen lassen, die kontinuierlich Glücksmomente erzeugt, sodass man darüber alles andere vergisst. Nagel macht einen ähnlichen Punkt: Wir wollten uns nicht auf den Verstand eines Kindes zurückstufen lassen, nur um dafür ein ausnahmslos spaßiges Kinderleben führen zu können.
Als Gegenentwurf zum Befindlichkeitsdiskurs kann der Leistungsdiskurs gelten, der bis in die jüngere Vergangenheit dominant war. Der Leistungsmensch definiert sich über Arbeit, Aufgaben und Triebverzicht. Bei Aristoteles ist es die «Tüchtigkeit» des Einzelnen als aktives Moment, nämlich handelnd in die Welt einzugreifen. Der Tüchtige will etwas aus seinem Leben machen, etwas erschaffen. Im Extremfall ist der Leistungsorientierte gerade stolz darauf, vierzehn Stunden zu arbeiten und dabei seine Befindlichkeiten auszublenden. Dazu passt übrigens eine der wenigen Lebensweisheiten des amerikanischen Philosophen Willard Van Orman Quine: «Leben ist, wenn die wenigsten den meisten von uns das Gefühl geben, dass die wenigsten das meiste daraus machen.»
Den Prototyp des Leistungsmenschen hat der deutsche Soziologe Max Weber in seiner
Protestantischen Ethik
beschrieben: Der Kapitalismus habe sich vor allem deshalb verbreiten können, weil in ihm die
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