Folge dem weißen Kaninchen
Sterblichkeit schon im Alltag keine Rolle spielt, warum sollte das ewige Leben davon bestimmt sein? Im Gegenteil: Wir müssen ja gerade schmerzlich erkennen, dass jede Abzweigung in unserem Werdegang andere Möglichkeiten für immer verschließt. Der deutsche Philosoph Hans Blumenberg nennt das die «Schere zwischen Lebenszeit und Weltzeit». Irgendwann erkennen wir, dass unser Leben niemals ausreichen wird, um alles Erfahrbare der Welt zu erfassen. Als Unsterbliche hingegen könnten wir all die Lebenswege beschreiten, die uns vorher verwehrt blieben: Wir könnten nacheinander Musiker, Vagabunden, Weltreisende, Architekten und Ärzte werden. Übrigens würde uns dann niemand fragen, ob wir unser Studium in der Regelstudienzeit durchgezogen haben.
Williams gibt noch einen anderen Punkt zu bedenken: Unser Verstand und unsere Erinnerungsfähigkeit definieren uns als Individuen, doch beide sind begrenzt. Mit den Jahrtausenden würden wir Altes vergessen und Neues hinzulernen, unsere Interessen und Pläne würden sich allmählich austauschen, bis wir irgendwann völlig andere Personen wären. Dieser Punkt hat sicher etwas für sich. Aber auch der Wandel müsste uns nicht stören. In jedem Augenblick wüssten wir ja, wer wir sind und was wir wollen, auch wenn wir keine Ähnlichkeit mehr mit unserem früheren Selbst hätten. Ist es nicht besser, allmählich jemand anders zu werden, als gar nicht mehr zu sein?
Fast alle Menschen finden die Vorstellung ewiger Jugend verlockend, also in der Blüte ihres Lebens nicht mehr zu altern. Umso erstaunlicher, dass die Menschheit nicht all ihr Forschen und Streben gerade darauf konzentriert, das Altwerden zu stoppen. An der tatsächlichen Unsterblichkeit arbeiten bis heute nur wenige Wissenschaftler. Die Kryoniker setzen auf die Wiedererweckung gekühlter Hirne durch die Medizin der Zukunft. In der euphorischen Phase der Künstliche-Intelligenz-Forschung hingegen glaubten viele noch, man könne den Geist ganz einfach wie ein Computerprogramm auf eine Festplatte laden. Diese Unsterblichkeitsträume sind heute zerstoben. Die aussichtsreichsten Ergebnisse liefert inzwischen die Zellforschung. Biologen konnten bereits bei Mäusen den Alterungsprozess umdrehen. Einige vermuten, dass wir noch zu Lebzeiten diesen Effekt bei Menschen erleben werden. Der Jungbrunnen sprudelt dann nicht aus einer geheimen Quelle, sondern aus den Pipetten der Forscher, die unsere DNA behutsam modifizieren.
Bei manchen gehen die Unsterblichkeitsphantasien in eine andere Richtung. Sie wollen durch ihre Taten «unsterblich» werden. Vielleicht treibt sie die Sorge, in Vergessenheit zu geraten, oder der Wunsch, über den Tod hinauszuwirken. So meinte der mittlerweile verstorbene Künstler Jörg Immendorf: «Kunst besiegt den Tod.» Das ist zwar eine schöne Vorstellung, doch sie beruht auf einer Verwechslung: Ewige Bekanntheit ist nicht Unsterblichkeit. Die Kunstwerke mögen bleiben, doch davon hat der Erschaffer nichts. Woody Allen drückt das so aus: «Ich will nicht in den Herzen der Menschen weiterleben, ich will in meinem Apartment weiterleben.»
Das Leben ist schön und sinnlos
Das Wissen um die eigene Endlichkeit hat Einfluss darauf, wie wir über das Leben denken. Zwei Einstellungen kann man unterscheiden: zum einen die
positive
, lebensbejahende, die sagt: «Nach dem Tod kann nichts Besseres mehr kommen. Man lebt nur einmal. Ich will alles rausholen.» Zum anderen die
negative
, hoffnungslose, die sagt: «Alles ist sinnlos. Warum sich anstrengen und kämpfen, wenn doch nichts von mir übrig bleibt?»
Ein besonders eindrückliches Beispiel für die positive Sicht des Lebens ist eine Szene aus der
Odyssee
, in der Odysseus im Hades mit dem toten Achill spricht. Der Sage nach hat Achill das kurze ruhmreiche dem langen gewöhnlichen Leben vorgezogen. Er starb auf dem Schlachtfeld vor Troja. Für die Nachwelt ist er der größte Held der Antike, in der Unterwelt der Fürst der Toten. Doch Odysseus gegenüber erklärt er, wie belanglos der Ruhm gegenüber dem Leben ist: «Nicht mir rede vom Tod’ ein Trostwort, edler Odysseus! Lieber ja wollt’ ich das Feld als Tagelöhner bestellen, einem dürftigen Mann, ohn’ Erb’ und eigenen Wohlstand, als die sämtliche Schar der geschwunden Toten beherrschen.»
Auch das
carpe diem
des römischen Dichters Horaz steht in dieser positiven Tradition. In seinen
Carmina
, den
Liedern
, heißt es: «Sei weise, kläre den Wein und beschneide langfristige Hoffnung auf
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