Folge dem weißen Kaninchen
kurze Dauer. Da wir noch sprechen, ist die neidische Zeit schon entflohen. Ergreife diesen Tag, und am wenigsten traue dem nächsten.» Im
Alten Testament
findet sich ein ähnlicher Gedanke: «Alles, was dir vorhanden kommt zu tun, das tue frisch; denn in der Hölle, da du hinfährest, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit.» Das ist lebensbejahend, weil es nicht auf ein Jenseits vertröstet. Die Hölle nach dem Tod scheint kein erfahrbarer Ort wie in Dantes
Göttlicher Komödie
, sondern schlicht die Nichtexistenz zu sein: umso wertvoller das irdische Leben.
Im christlichen Abendland überwiegt allerdings die negative Sicht. Im
Alten Testament
steht auch: «Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.» Überspitzt gesagt: Es gibt nur Dreck, und das Leben dazwischen ist auch kein Spaß.
Allenfalls auf das Reich Gottes kann man hoffen, gerade weil die Zeit davor elend und sinnlos ist: «Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe, denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.»
Das kann nur Shakespeare noch treffender ausdrücken. Macbeth sagt: «Das Leben ist nichts als ein wandelnder Schatten; ein armer Schauspieler, der seine Stunde auf der Bühne stolziert und sich quält und dann nicht mehr gehört wird: Es ist eine Geschichte, von einem Idioten erzählt, voller Schall und Raserei, ohne Bedeutung.» In Woody Allens Film
Annie Hall
aus dem Jahr 1977 findet sich ein ähnlicher Gedanke. Zu Beginn erzählt er einen Witz: «Zwei ältere Damen sitzen in einem Restaurant. Die eine sagt: Das Essen hier ist wirklich furchtbar. Und die andere: Stimmt, außerdem sind die Portionen so klein.» Woody Allen meint, das gelte für seine gesamte Existenz: «Das Leben ist voller Elend, Einsamkeit und Leid, und es ist viel zu schnell vorbei.»
Wer vom sinnlosen «Leben» spricht, lässt meist offen, ob er sein eigenes Leben meint oder das Leben schlechthin. Vielleicht halten nur die Leidenden und Unglücklichen ihr Leben für sinnlos. Doch wie hängen Glück, Leben und Sinn zusammen?
Drei Stufen des Glücks
Aristoteles zufolge streben alle Menschen nach einem Ziel, der
Eudaimonia
, die traditionell als
Glück
übersetzt wird. Er unterscheidet drei Stufen des Glücks. Die «grobschlächtigen Naturen» erreichen nur die erste Stufe. Sie streben nach sinnlichem Vergnügen: Essen und Sex. Die zweite Stufe erreicht, wer sein Leben dem Staatsdienst verschreibt und nach Ehre strebt. Heute würde man vielleicht sagen: wer seine Wünsche und sein Vergnügen höheren Zielen hintanstellt, weil er etwas leisten will, sei es in Politik, Wirtschaft oder Kunst. Die dritte Stufe, das höchste Glück, definiert Aristoteles als «Tätigsein der Seele im Sinne der ihr vornehmsten Tüchtigkeit». Aristoteles hält das Denken für die vornehmste Aufgabe eines Menschen und somit die Philosophie, oder allgemeiner die Wissenschaft, für das höchste Glück.
Man kann sich fragen, ob Aristoteles als Philosoph in seinem Urteil wirklich hundertprozentig objektiv war. Auf den ersten Blick scheint seine Auffassung nicht nur elitär, sondern unzutreffend zu sein. Sicher, es kann Spaß machen, über die Rätsel der Natur nachzudenken. Aber warum soll es nicht drei gleichwertige Quellen des Glücks geben: die leiblichen Genüsse, den Erfolg im Beruf und das Nachdenken? Auch ein vergeistigter Denker freut sich doch über Lob von Kollegen oder ein schönes Stück Käsekuchen. Bei genauerer Betrachtung ist fraglich, ob «Glück» überhaupt die beste Übersetzung von «Eudaimonia» ist, besonders weil wir mit dem Wort «Glück» vieles meinen können: Genuss, Zufriedenheit oder ein ganzes erfülltes Leben.
Später fügt Aristoteles noch hinzu, es ginge um die Eudaimonia «in einem vollen Menschenleben. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling.» Diese Bilanz-Vorstellung des Lebens legt nahe, dass Aristoteles eher von «Erfüllung» spricht. Ihm zufolge könne man ohnehin nur rückblickend die Rechnung aufmachen: Ein Leben ist erst dann erfüllt, wenn es auch den Nachfahren gutgeht. Glück ist also nicht bloß eine Reihe von Momenten des Genusses, der Zufriedenheit und des Denkens, sondern an einem größeren Maßstab abzulesen. Zur Sinnlichkeit des Lebens muss noch etwas hinzukommen: Erfüllung, Bedeutung, Sinn. Aber
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