Folge dem weißen Kaninchen
protestantische Vorstellung weiterlebe, Gottes Segen zeige sich im irdischen Erfolg. Wer also die Askese der Arbeit über Genuss und Spaß setzt, wird auf Dauer immer erfolgreicher sein als seine Konkurrenten. Leistungsmenschen sehen sich traditionell in diesem größeren Rahmen: Sie handeln im Auftrag Gottes, im Dienst des Staates, aus Pflicht oder aus Ehre. Vielleicht konnte der Hedonismus unserer Zeit erst ins Bild treten, als dieser Rahmen irgendwann zerbrach. Seitdem gilt: Weniger tun, mehr erleben.
Lebensberater bedienen übrigens auch den Leistungsdiskurs. Drei Themen kehren immer wieder: Man soll sich Alltagsroutinen vergegenwärtigen, Schicksalsschläge akzeptieren und sein Leben verändern. Alle drei Punkte liegen nahe. Viele unserer über Jahre eingeschliffenen Verhaltensmuster haben ihre Funktion verloren. Manchmal reicht da ein kleiner Augenöffner von Freunden, und man beginnt, an sich zu arbeiten. Manchmal bedarf es vieler Therapiesitzungen. Schon die antiken Stoiker haben übrigens gepredigt, das Unveränderliche hinzunehmen und das Veränderliche zu verändern.
Das Leben aktiv zu führen hat noch einen weiteren Aspekt, von dem die Lebensberatung oft unwissentlich profitiert. Allen Menschen macht es Spaß zu spüren, wie sie auf die Welt einwirken. Schon für kleine Kinder gibt es kaum etwas Schöneres, als die Türen der U-Bahn zu öffnen: kleiner Knopfdruck, große Wirkung. Diese Lust an der eigenen Kausalität sitzt tief in uns, wahrscheinlich ist sie angeboren. So freuen wir uns nicht nur über den aufgeräumten Keller, den uns das Beraterbuch empfiehlt, sondern vor allem darüber, dass
wir
es waren, die den Keller verändert haben. Das ist sozusagen der
Heimwerker-Effekt
der Existenzphilosophie. Es ist auf eine tiefe Weise befriedigend, Veränderungen selbst herbeizuführen: die Küche
selbst
eingebaut, die Wohnung
selbst
renoviert, die Firma
selbst
gegründet, den Job
selbst
gewählt, das Bild
selbst
gemalt, den Text
selbst
geschrieben. An den Produkten unseres Tuns können wir dann unseren Einfluss ablesen: Vordergründig sind wir stolz auf die eigene Leistung: die Küche, den Text, die Firma. Hintergründig genießen wir es zu merken, dass wir gehandelt haben, also der Welt nicht ganz passiv ausgeliefert waren.
So hat schon Aristoteles verdeutlicht, dass wir nicht nur für die eigenen Taten verantwortlich sind, sondern auch für die Umstände, die wir durch Taten beeinflussen können, beispielsweise unsere Gesundheit. Das Gleiche gilt für unsere Lebensführung, unseren Freundeskreis, unsere Kleidung. Camus meinte sogar, ab einem bestimmten Alter sei jeder für sein Gesicht selbst verantwortlich. Er hatte gut reden, denn er sah aus wie der attraktive Bruder von Humphrey Bogart. Der Punkt ist dennoch nicht ganz aus der Luft gegriffen: Wer fröhlich durchs Leben geht, hat später sympathische Lachfalten. Nur: Man kann seinen Mitmenschen nicht vorhalten, sie hätten das Gesicht, das sie verdienen. Viele Menschen haben einfach nichts zu lachen, weil sie ums tägliche Überleben kämpfen müssen. Dann ist es auch nicht ihre Schuld, wenn Ängste und Sorgen tiefe Furchen in ihr Gesicht graben.
Absurd, mysteriös, erstaunlich
Wir sind in diese Welt gestolpert und müssen das Beste draus machen. Unser Leben hat einen Sinn für uns: «Sinn» im Sinn von Bedeutung. Vielen reicht es nicht, glücklich und zufrieden zu sein, sie wollen auch etwas leisten. Doch wozu? Der amerikanische Schriftsteller Walt Whitman meint: «Damit das Spiel der Kräfte weitergeht und du deinen Vers dazu beitragen wirst.» Doch ist das wirklich der Antrieb? Und was kümmert die Kräfte, was ich tue?
Wir können unserem eigenen Leben einen Sinn verleihen, doch wie sieht es mit dem Sinn des Ganzen aus? «Sinn» als «Zweck» scheint nicht auf natürliche Dinge anwendbar: Bäume, Kometen, das Leben und schon gar nicht das Universum. Hier ist tatsächlich der Vorwurf der Begriffsverwirrung angebracht: Wir schauen aus einem zu menschlichen Blickwinkel auf das Universum, wenn wir annehmen, es sei zu einem Zweck geschaffen wie ein Toaster. In seinem Werk
Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert
drückt Nietzsche das so aus: «
Wir
haben den Begriff «Zweck» erfunden: in der Realität
fehlt
der Zweck … es gibt nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hieße das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen …
Aber es gibt nichts außer dem Ganzen
!»
Dem
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