Folge dem weißen Kaninchen
Gefühlsneigungen genau wie Trauer oder Hass. Sie sind ebenfalls Widerfahrnisse, weil sie uns zustoßen, aber weil sie länger dauern als normale Gefühle, sind sie stärker durch unser Handeln beeinflussbar.
Die sozialen Konstruktivisten fassen Gefühle und Gefühlsneigungen als Handlungsmuster auf. Ihrem Ansatz zufolge ist Liebe ein
Skript
, eine Art Mini-Drehbuch, das sagt, wie eine typische Liebesepisode abläuft. Tatsächlich ist in unserem Verhalten der Einfluss von Literatur, Film und Werbung unübersehbar. In vielen romantischen Komödien benimmt sich der verliebte Mann wie ein Trottel und ist doch irgendwie «süß» dabei, weil er alles versucht, das Herz der Frau zu gewinnen: fast wie im echten Leben. Und wer hat bei einem Dinner im Kerzenschein nicht Bilder im Kopf, die aus einem Werbespot für Tiefkühlpizza stammen?
Die Konstruktivisten begehen dennoch einen Fehlschluss, denn Gefühle sind keine Drehbücher, sondern körperlich erlebte Einschätzungen, die sich nicht ändern, nur weil das Verhalten schwankt oder wir unterschiedliche Bilder im Kopf haben. Zugegeben, ohne sozialen Input hätten wir keine Emotionen. Das ist aber ebenso unbestreitbar wie: Ohne Nahrung würden wir nicht wachsen. Indem die Konstruktivisten die feinen Unterschiede zwischen den Kulturen betonen, entgehen ihnen die großen Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen. Außerdem: Sind Erzählungen wirklich Spiegelbilder unserer Zeit? Geschichten mit fiktiven Figuren stellen doch gerade den Kontrast zum Alltag dar. In der Literatur und im Film tauchen selten Durchschnittsmenschen auf. Und wenn, dann erleben sie etwas Außergewöhnliches.
Nicht einmal die These, dass erst die Dichtung des Mittelalters von der Liebe erzählt, ist richtig. In der Weltliteratur findet man viel frühere Zeugnisse, zum Beispiel im
Alten Testament
. Das
Hohelied Salomos
ist spätestens 500 Jahre vor unserer Zeitrechnung entstanden, vermutlich schon viel früher. Darin sagt eine Frau: «Deine Liebe ist lieblicher als Wein. Es riechen deine Salben köstlich; dein Name ist eine ausgeschüttete Salbe, darum lieben dich die Mädchen. Zieh mich dir nach, so wollen wir laufen.» Und der Mann spricht: «Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die herabsteigen vom Gebirge Gilead … Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut, du hast mir das Herz genommen mit einem einzigen Blick deiner Augen.» Man hat den Eindruck, dass die beiden verliebt sind, auch wenn die Sprachbilder aus einer uns fremden Kultur stammen. Wir verstehen, wie die beiden fühlen, weil sie genau wie wir fühlen, auch wenn heutzutage der Vergleich zwischen Ziegen und Haarpracht nicht das allerbeste Mittel ist, seine bedingungslose Zuneigung zu bekunden.
Lewis meint, bei Homer oder Vergil hätten sich die Menschen noch nicht verliebt. Das scheint auf den ersten Blick so zu sein, immerhin steht der Leser vor vollendeten Tatsachen. Die Paare sind schon zusammen oder finden sich schnell: Paris und Helena, Odysseus und Penelope, Aeneas und Dido. Thema der Epen ist nicht die Kennenlernphase, sondern Kampf und Abenteuerfahrten. Allerdings folgt daraus nicht, dass keine Liebe im Spiel war. Homer erzählt, wie Odysseus seine Frau Penelope und seinen kleinen Sohn verlassen muss, um gegen Troja zu ziehen. Nach zehnjähriger Belagerung und dreijähriger Irrfahrt strandet er auf der Insel der schöngelockten Nymphe Kalypso. Sie verliebt sich in den Helden und hält ihn weitere sieben Jahre auf der Insel fest. Obwohl sie Odysseus Unsterblichkeit und ewige Jugend verspricht, sitzt er jeden Tag am Strand und starrt aufs weinfarbene Meer hinaus, voller Sehnsucht nach Penelope, zu der er schließlich doch zurückkehren kann. Wenn Odysseus Penelope nicht liebte, dann hat nie ein Mann eine Frau geliebt.
Auch in der Volksliteratur fast aller Kulturen tauchen Motive und Handlungen auf, die für unsere «europäische» Vorstellung von Liebe einschlägig sind: Sehnsucht, Innigkeit, Lust und das Versprechen, sich zu binden. Die kulturelle Theorie schließt also von einem Literaturtrend des Mittelalters fälschlich auf das echte Leben. Dabei verwechselt sie Liebe mit der westlichen Choreographie der Partnerschaft: Kennenlernen, Komplimente, Kino, Kochen, Kerzenschein, Küsse, Koitus, Kirche, Kinder, Kombi.
Mit dem Bauch denken
Soziopathen empfinden keine Liebe und haben kaum Mitgefühl. Wie der Körpertheoretiker Damasio mit Kollegen gezeigt
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