Folge dem weißen Kaninchen
die Auffassung, dass Wahrheit objektiv ist.
Die Subjektivität der Wahrheit
Gegen die Korrespondenztheorie stehen
epistemische Theorien
, die von unserem Wissensstand abhängig machen, ob eine Aussage wahr ist. Als einer der ersten schlug der deutsche Philosoph Franz Brentano vor, dass eine Behauptung dann wahr ist, wenn man unmittelbar einleuchtende Hinweise dafür hat. Warum ist es wahr, dass die Sonne scheint? Ich sehe es klar und deutlich. Diese Theorie heißt deshalb
Evidenztheorie der Wahrheit
. Ein Problem ist nur, dass der Satz «Die Sonne scheint» wahr sein kann, selbst wenn ich keine unmittelbaren Hinweise dafür habe, weil ich gerade im Keller bin. Die Evidenztheorie legt die Messlatte für Wahrheit offenbar zu hoch.
Eine andere Variante: Der Philosoph und Psychologe William James sagt, eine Überzeugung sei wahr, wenn sie uns auf Dauer nützt. Überzeugungen wie die, dass die Sonne scheint, haben den Menschen auf Dauer genützt: So haben sie tagsüber gearbeitet, sich Sonnenuhren gebaut oder Sonnenhüte aufgesetzt. James’ Ansatz nennt sich
pragmatische Wahrheitstheorie
, weil er auf das praktische Tun ausgerichtet ist.
Doch wie der amerikanische Philosoph Sidney Morgenbesser bemerkt: Der Pragmatismus klingt gut als Theorie, funktioniert aber nicht in der Praxis. Wahrheit und Nützlichkeit können nämlich auseinandergehen. Eine Akrobatin mag souverän über ein Hochseil tanzen, gerade weil sie irrtümlich glaubt, gut gesichert zu sein. Ihr Kollege könnte nervös werden und stürzen, gerade weil er die wahre Überzeugung hat, dass sein Akt lebensgefährlich ist. Auch wenn es ähnlich klingt: Was sich bewährt, muss nicht wahr sein. Und umgekehrt.
Ein verwandter Vorschlag: Der amerikanische Philosoph Charles Sanders Peirce sagt, wahr sei das, worauf sich die besten Wissenschaftler in ferner Zukunft einigen werden. Diese Theorie ähnelt der pragmatischen, verschärft allerdings die Kriterien. Weil sie Wahrheit vom Konsens der Forscher abhängig macht, heißt sie
Konsenstheorie der Wahrheit
.
Allerdings gilt auch hier: Der Konsens macht die Wahrheit nur sehr wahrscheinlich, garantiert sie jedoch nicht. Alle Physiker stimmen darin überein, dass die Geschwindigkeit des Lichts, das von der Sonne ausgeht, eine Konstante ist. Man kann daher davon ausgehen, dass das auch wahr ist: Wer, wenn nicht diese Forscher, sollte es noch besser wissen? Dennoch könnten sich alle Wissenschaftler zusammen irren. Außerdem einigen sie sich nicht einfach so auf irgendwelche Überzeugungen, sondern haben gute Gründe. Der Konsens ist eher ein Nebenprodukt der Wahrheitssuche, nicht aber ein entscheidendes Merkmal der Wahrheit.
All diese Theorien stoßen immer wieder auf dasselbe Problem: Wahrsein und unser Für-wahr-Halten sind unabhängig voneinander. Alles kann für die Wahrheit einer Überzeugung sprechen, und sie kann dennoch falsch sein. Sicher, um die Wahrheit festzustellen, suchen wir immer nach Hinweisen: Die Eltern entdecken das leere Nutellaglas hinterm Schrank, sehen die Schokoladenspuren am Ärmel ihrer Kinder und bringen so die Wahrheit ans Tageslicht. Mit derselben wissenschaftlichen Methode arbeitet auch die Kriminalpolizei. Aber die Idee, dass man die Wahrheit «herausfinden» kann, setzt schon voraus, dass sie unabhängig von unseren Einschätzungen besteht. Und das heißt auch, dass wir uns bei der Wahrheitssuche verirren können.
Kann man Wahrheit definieren?
Eine ganz andere Option ist noch offen: Hinter «ist wahr» oder «ist falsch» könnte viel weniger stecken als angenommen. Wer sagt: «Es ist wahr, dass die Sonne scheint», könnte auch einfach sagen: «Die Sonne scheint», denn mit jeder Behauptung unterstellt der Sprecher schon, dass er das Gesagte für wahr hält. In diesen Sätzen scheint «ist wahr» bloß eine rhetorische Betonung auszudrücken, inhaltlich jedoch überflüssig zu sein. Das hat der englische Philosoph Frank Ramsey in einem berühmten Aufsatz klargestellt. Seine Theorie heißt deshalb
Redundanztheorie der Wahrheit
.
In der aktuellen Diskussion geht es hauptsächlich um Spielarten dieser Theorie. Doch die Redundanztheorie konzentriert sich eher auf das
Wahrheitsprädikat
, also das Eigenschaftswort «ist wahr», als auf den
Wahrheitsbegriff
, also das, was dahintersteckt, wenn wir etwas für wahr halten. Auch wenn ich kurz und knapp nur «Die Sonne scheint» sage, bleibt offen, wann ich das mit Fug und Recht behaupte und wann ich mich irre, mit anderen Worten: worin die
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