Folge dem weißen Kaninchen
angenommen und einen Aufsatz darüber geschrieben. Den beachtete lange Zeit nur die Fachwelt, bis ein Verlag das Potenzial erkannte: Ein berühmter Philosoph aus Princeton nimmt ein sehr unphilosophisches Wort in den Mund. Als dünnes Buch hat sich der Aufsatz millionenfach verkauft. Dabei geht es Frankfurt allerdings nicht um eine lexikalische Analyse des Wortes «Bullshit», sondern um ein sehr menschliches Phänomen: Oft stellen wir Behauptungen auf, von denen wir gar nicht genau wissen, ob sie wahr oder falsch sind.
Der Bullshitter steht im Kontrast zum Lügner. Zunächst könnte man denken: Wer lügt, sagt absichtlich die Unwahrheit. Doch der Fall ist komplizierter, denn Schauspieler sagen in ihren Rollen oft absichtlich Falsches, sind aber keine Lügner, weil sie nur rezitieren und nichts behaupten. Ein anderes Beispiel: Ich will einen Aprilscherz machen und sage einer Freundin, dass ihr Auto abgeschleppt wurde. Angenommen, das ist tatsächlich passiert, ohne dass ich davon wusste. Dann sage ich zufällig die Wahrheit und lüge trotzdem. Lügen heißt offenbar genauer: mit Täuschungsabsicht etwas sagen, was man für unwahr
hält
.
Wer bullshittet, will sein Gegenüber ebenfalls täuschen, allerdings über zwei andere Dinge: seinen eigenen Wissensstand und die Verlässlichkeit der Thesen, die er im Brustton der Überzeugung äußert. Dabei nimmt er die Unwahrheit billigend in Kauf. Wie der Lügner tut er so, als ginge es ihm um die Wahrheit. Der Lügner jedoch ist überzeugt, die Wahrheit zu kennen, und verdreht sie absichtlich. Der Bullshitter beabsichtigt nicht, dass andere irrtümlich etwas Falsches glauben. Dem Bullshitter ist die Wahrheit schlichtweg egal.
Erstaunlicherweise sagt Frankfurt nichts zur Motivation, nur dass wir alle einen Hang zum Bullshitten haben. Man kann den Aufsatz auch als Medienkritik lesen: Gerade im Fernsehen, in den Printmedien und in Blogs hat jeder eine Meinung, oder notfalls zwei – frei nach Groucho Marx: «Das sind meine Prinzipien. Wenn sie Ihnen nicht passen, ich habe auch andere.»
Immer mal wieder wollen wir einfach nur mitreden, und das geht dann auf Kosten der Überprüfung oder des gründlichen Nachdenkens. Nur wenige üben sich in der Kunst der Enthaltung. Mit anderen zu sprechen macht einfach zu viel Spaß. Wir wissen dann nicht genau, wovon wir reden, und die Wahrheit ist uns nicht so wichtig.
Natürlich liegt uns die Wahrheit normalerweise am Herzen. Niemand strebt danach, Unwahres zu glauben oder unwissend zu bleiben. Doch wann ist etwas wahr, und wann haben wir Wissen? Und wie hängt beides miteinander zusammen? Diese Fragen beschäftigen die Philosophie seit ihren Anfängen. Der Argumentationsgang ist dabei oft anspruchsvoller als in anderen Teilbereichen der Philosophie. Doch die Anstrengung lohnt sich: Hat man einmal den Unterschied zwischen Wahrheit und Wissen verstanden, sieht man auch alle anderen Themen klarer.
Was ist wahr?
Als Jesus sagte, er sei auf der Welt, um die Wahrheit zu bezeugen, stellte Pilatus die rhetorische Frage: «Was ist Wahrheit?» Mit diesem sprachlichen Achselzucken sei Pilatus seiner Zeit weit voraus gewesen, bemerkt der englische Philosoph John L. Austin ironisch. Denn wer von «der Wahrheit» spreche, habe schon den ersten philosophischen Fehler begangen. In der Wahrheitstheorie ginge es um die Frage, wann Aussagen wahr oder falsch seien, und nicht um ein großes unbekanntes Ding: «die Wahrheit», die sich nur wenigen erschließe.
Austin ordnete sich einer Strömung der
Analytischen Philosophie
zu, und zwar der
Ordinary Language Philosophy
. Deren Anhänger sind der Auffassung, dass man viele philosophische Probleme nicht lösen, sondern vielmehr auflösen müsse, indem man sie als Scheinprobleme entlarvt. Ein Einwand geht in etwa so: Sogar große Denker haben sich selbst in die Irre geführt, indem sie aus kleinen Wörtern wie «nicht» große machten: «das Nichts». Einige haben sich dann tatsächlich gefragt, ob «das Nichts» existiert oder ob es eher
nichts
ist. Doch wer die Alltagssprache so überdehnt, verzerrt auch seine Gedanken. Dasselbe gilt für andere große Nomen der Philosophie: «das Sein», «das Ich» oder eben «die Wahrheit».
Einige Philosophen der normalen Sprache gingen sogar so weit zu behaupten, die Philosophie sei nichts anderes als eine genaue Analyse der Alltagssprache. Daran glaubt zwar heute fast niemand mehr, aber die kritische Haltung gegenüber großen Nomen und eigenartigen Wörtern ist
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