Folge dem weißen Kaninchen
Gespräch entstünde und nicht von einer langen Publikationsliste abhinge. Er brauchte allerdings eine Veröffentlichung, um seine Stelle an der Universität zu behalten. So schrieb Gettier einen der berühmtesten philosophischen Aufsätze des 20 . Jahrhunderts. Und einen der kürzesten. Auf nur drei Seiten griff er Sokrates’ Frage wieder auf: Ist Wissen eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung? Sokrates selbst hatte schon angedeutet, dass diese Definition noch Lücken haben könnte. Gettier widerlegt sie mit zwei kurzen Fallgeschichten. Andere Philosophen folgten ihm, sodass die Liste mit sogenannten
Gettier-Fällen
immer länger wird.
Ein einfaches Beispiel geht so: Jemand fragt mich, wie spät es ist. Diesmal schaue ich auf die Uhr und lese die Zeit ab: «Viertel nach elf.» Tatsächlich ist es auch Viertel nach elf. Was ich nicht weiß: Meine Uhr ist vor genau zwölf Stunden stehengeblieben. Jetzt sind alle drei Bedingungen der Wissensdefinition erfüllt: Ich habe eine wahre Überzeugung, die auch gerechtfertigt ist, denn ich habe schon oft die Zeit von meiner Uhr abgelesen. Dennoch würden wir nicht sagen, dass ich
weiß
, dass es Viertel nach elf ist. Beispiele dieser Art klingen zuerst spitzfindig. Sie sind aber einschlägig, weil sie zeigen, dass an der Definition etwas fehlt: Nicht alle wahren, gerechtfertigten Überzeugungen machen schon Wissen aus.
Gettiers Entdeckung ist einfach: Ganz gleich, wie genau eine Beschreibung auch sein mag, im Prinzip kann es immer so kommen, dass sie erfüllt ist, doch nicht in der richtigen Weise, also in der, die wir unterstellt hatten. Lösungsvorschläge zu den Gettier-Fällen halten einen ganzen Zweig der Erkenntnistheorie in Lohn und Brot. Die erweiterte Analyse des Begriffs des Wissens lautet inzwischen «wahre, gerechtfertigte Überzeugung plus X». Worin dieser X-Faktor allerdings besteht, ist immer noch umstritten. Niemand hat bisher eine wasserdichte Analyse vorgelegt.
Mehr oder weniger Wissen?
Einige entgegnen Gettier, dass wir nicht von «Wissen» sprechen können, wenn die Möglichkeit zum Irrtum besteht. Doch diese Forderung ist zu stark. Sie verwechselt Wissen mit Unfehlbarkeit. Müsste man den möglichen Irrtum sicher ausschließen, könnte man so gut wie nie sagen, dass jemand etwas weiß.
Wir Menschen sind fehlbare Wesen: Unsere geistigen Fähigkeiten sind begrenzt. Wir haben uns alle schon einmal geirrt, beispielsweise über den hohen Eisengehalt im Spinat. Jede einzelne unserer Überzeugungen könnte auch falsch sein. Daraus folgt aber nicht, dass alle zugleich falsch sein könnten. Ein Beispiel: Um sich in der Überzeugung «Kolumbus hat Australien entdeckt» zu täuschen, muss es wahr sein, dass Kolumbus ein Seefahrer war und Australien ein Kontinent ist. Glaubte man, Kolumbus sei ein geflügeltes Pferd und Australien eine ferne Galaxie, die aus Zuckerwatte besteht, so wäre gar nicht mehr klar, was eigentlich an «Kolumbus hat Australien entdeckt» falsch ist. Nur vor dem Hintergrund der vielen wahren Überzeugungen können sich die wenigen Irrtümer überhaupt abzeichnen. Auf den Kontrast kommt es an.
Mit dem Wort «Wissen» kann man auch einen zu weiten Begriff verbinden. Das ist in der Kulturwissenschaft und Medientheorie oft der Fall. Immer wieder liest man von der «Halbwertszeit» des Wissens, davon, dass sich Wissen in festen Abständen «verdoppeln» würde oder dass es «Revolutionen des Wissens» geben solle. Doch kaum einer kann genau sagen, was damit eigentlich gemeint ist.
Das Problem ist nämlich, dass «Wissen» ein
Massenomen
ist wie «Sand» oder «Wasser». Es hat keinen Plural, ist also nicht zählbar wie «Tisch» oder «Gedanke»; allenfalls messbar, wenn man eine Maßeinheit wie «Kilo» oder «Liter» hätte. Einige denken bei dieser Einheit an Bücher. Sicher, die Zahl der lieferbaren Titel hat rasant zugenommen, doch ist das ein gutes Maß? Das ist fraglich, denn erstens finden sich beispielsweise in Romanen und Erzählungen nur wenige wahre Aussagen, und zweitens bestehen Bücher aus Sätzen und nicht aus Überzeugungen. Überzeugungen kann man gewinnen, indem man liest, insofern ist die Rede vom «Wissen» in Büchern nur abgeleitet. Auch diejenigen, die vom «Wissen einer Kultur» sprechen, sind sich oft nicht im Klaren darüber, ob sie das echte Wissen der einzelnen Menschen in dieser Kultur meinen oder hingegen die Erfindungen, über die sich Menschen Wissen verschaffen: Fernseher, Internet,
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