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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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Wahrheit des Satzes nun besteht.
    Aristoteles hatte offenbar doch eine wichtige Intuition: Ob ein Satz wahr oder falsch ist, hängt von der Welt ab. Man hätte sich viel Ärger ersparen können, wenn man diesen Umstand nicht als «Abbild» oder «Übereinstimmung» veranschaulicht hätte. Das Problem der epistemischen Theorien liegt oft darin zu glauben, man könne Wahrheit «definieren». Nach traditioneller Auffassung hieß das, einen Begriff zu
analysieren
, also in seine notwendigen Bestandteile zu zerlegen, die ihn zusammen eindeutig festlegen. Doch viele philosophische Begriffe sind so allgemein und grundlegend, dass das gar nicht funktioniert. Sokrates übrigens nennt nur ein scherzhaftes Beispiel für eine gelungene Begriffsanalyse: «Schlamm» ist eine «Mischung aus Wasser und Erde». Philosophische Begriffe wie «Materie», «Zeit» oder eben «Wahrheit» gehören zu den allgemeinsten, die wir kennen. Sie sind sozusagen die unzerteilbaren Grundbausteine unseres Begriffsgebäudes.
    Der Begriff der Wahrheit ist also insofern undefinierbar, als er nicht in weitere Bestandteile zerlegt werden kann. Trotzdem kann man einiges Erhellendes darüber sagen, wie der amerikanische Philosoph Donald Davidson feststellt. Daher sollte man von einer
Charakterisierung
statt von einer
Definition
der Wahrheit sprechen. Davidson schließt sich dem polnischen Logiker Alfred Tarski an, der gezeigt hat, dass Wahrheit und Weltbezug eng beieinanderliegen: Mit unseren Worten und Gedanken beziehen wir uns auf die Welt, und sie sind wahr oder falsch je nachdem, worauf sich die einzelnen Teile der Gedanken oder Sätze beziehen.
    «Die Wahrheit», von der Jesus sprach, gibt es also nicht, sondern nur wahre Aussagen und Überzeugungen. Die hängen nicht von unseren Einzelmeinungen ab, sondern davon, wie die Welt beschaffen ist. Unzählige Wahrheiten werden wir niemals erfassen. Ein Beispiel: Der Satz «Napoleon hat am 4 . Januar 1812 kurz vor Mitternacht geniest» ist entweder wahr oder falsch, auch wenn es niemand jemals herausfinden wird.
    Wahrheit ist auch nicht der «Grenzwert» oder «Endpunkt», nach dem die Wissenschaft strebt, wie Peirce glaubte. Die Metapher der Reise zur Wahrheit findet sich noch heute in vielen Formulierungen, zum Beispiel wenn es heißt, dass Forscher sich der Wahrheit «annähern». Dieses Bild passt jedoch nur zu wissenschaftlichen Messungen, die genauer oder ungenauer sein können, nicht hingegen zur Wahrheit. Von «Annähern» kann man ohnehin nur sprechen, wenn man schon weiß, wo sich die Wahrheit befindet. Zum Vergleich: Man kann nur behaupten, sich Rom zu nähern, wenn man weiß, in welcher Richtung Rom liegt. Kennt man das Ziel oder die Koordinaten überhaupt nicht, ist man bloß in Bewegung. Dem Sprichwort zum Trotz führen nicht alle Wege nach Rom. Und schon gar nicht zur Wahrheit.
    Verwandt mit der Idee der Annäherung ist die Vorstellung, Wahrheit sei dehn- oder halbierbar. Auch hier gilt: Wer sagt, eine Aussage sei nur die «halbe Wahrheit» oder «wahrer» als eine andere, der liegt zu 100  Prozent daneben, denn nichts könnte, nun ja, falscher sein.

Ist Wahrheit relativ?
    «Was ist also Wahrheit?», fragt sich auch Nietzsche und antwortet: «Ein bewegliches Heer von Metaphern … die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.» Nietzsche schmückt seine Thesen noch weiter aus. Er vertritt einen
Wahrheitsrelativismus
, auf den sich noch heute einige Philosophen berufen. Die Spezies Mensch halte sich für den Mittelpunkt des Universums, genau wie die Mücke, die ebenfalls mit «diesem Pathos durch die Luft schwimmt».
    Nietzsche hatte Vorläufer. Der erste bekannte Relativist der Geschichte war der griechische Philosoph Protagoras, ein Zeitgenosse von Sokrates. Von ihm stammt der Ausspruch: «Der Mensch ist das Maß aller Dinge.» Protagoras meinte damit wohl, dass Wahrheit von jedem einzelnen Menschen abhängt, daher auch sein dunkler Nachsatz: «Sein bedeutet Scheinen.» Andere halten Wahrheit für abhängig von einer Kultur, einer Epoche, der sozialen Schicht, dem Geschlecht oder eben wie Nietzsche von der Spezies.
    Gesteigert behauptet der Relativist: «Es gibt keine Wahrheit» – ein Ausspruch, zu dem sich vor allem jene hinreißen lassen, die das erste Mal, aber nicht gründlich genug, über Wahrheit nachdenken. Schon die Selbstanwendung führt zu einem Widerspruch: Denn damit es keine Wahrheiten geben kann, muss der Satz wahr sein. Dann gibt es

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