Folge dem weißen Kaninchen
aber eine Wahrheit: eben diesen Satz. Auch Nietzsche ist mit diesem Problem konfrontiert: Ist es wahr, dass alle Wahrheiten Illusionen sind? Oder ist das auch nur eine Illusion? Und vor allem: Wie kann ich verstehen, was eine «Illusion» ist, also hier eine «falsche Meinung», ohne schon zu wissen, dass sie das Gegenteil von «wahrer Meinung» ist?
Nietzsche hat das vermutlich gesehen und wollte sich absichtlich paradox ausdrücken. Dieser Strategie schließen sich noch heute viele Relativisten an, meist weil sie die Wahrheitssuche mit einem totalitären Anspruch verwechseln, mit einem Dogma, gegen das sie ankämpfen.
Beim Relativismus handelt es sich um ein akademisches Phänomen. Ein wortgewandter Vertreter ist der amerikanische Philosoph Richard Rorty, der behauptet, dass Wahrheit immer von unseren Interessen abhängt. Mit solchen Aussagen zieht man viel Aufmerksamkeit auf sich. Kann man auch danach leben? In der Abgeschiedenheit des Seminarraums ist es leicht, Relativist zu sein. Doch spätestens auf dem Flughafen ist für uns entscheidend, ob es wahr ist, dass der Flieger nach New York geht oder nach Peking. Und wer vom Arzt hört: «Vielleicht hilft Ihnen dieses Medikament, vielleicht bringt es Sie um. Niemand kann das sagen, denn es gibt keine Wahrheit», der sollte nicht zum Relativismus, sondern zu einem anderen Mediziner wechseln.
Der Wahrheitsbegriff ist nicht definierbar, und Wahrheit ist objektiv, hängt also nicht von uns oder etwas anderem ab, sondern nur davon, wie die Welt beschaffen ist. Die meisten Relativisten halten Wahrheit und Wissen nicht auseinander. Tatsächlich ist Wahrheit eine notwendige Bedingung für Wissen, aber nur Wissen hängt von einzelnen Menschen ab. Die Disziplin, in der es um das Wissen geht, heißt traditionell
Erkenntnistheorie
. Deren Hauptfragen sind: Was ist Wissen? Und: Was können wir wissen?
Was ist Wissen?
Sokrates war der Erste, der die philosophischen
Was-Fragen
gestellt hat, also nach dem Wesen oder der Definition der großen Begriffe gefragt hat: Was ist Tugend? Was ist Gerechtigkeit? Was ist Wissen? Sokrates hat selbst keine Schriften hinterlassen, denn er war überzeugt, dass Philosophie immer die Form eines Gesprächs annehmen müsse. Für die Nachwelt hat Platon seine Dialoge aufgeschrieben. So stellt er es jedenfalls dar. Wie viel in diesen Texten allerdings von Platon und wie viel von seinem Lehrer Sokrates stammt, ist schwer zu rekonstruieren und bis heute umstritten. Man kann aber davon ausgehen, dass Platon nicht wörtlich stenographiert hat.
Sokrates benutzt in seiner Gesprächsführung seine berüchtigte
Hebammentechnik
, mit der er seinem Gegenüber die Antwort gleichsam kunstvoll aus dem Inneren herausholt. Sokrates und Platon nahmen an, dass jeder Mensch schon die Antworten auf viele Fragen in sich trüge und nur ein wenig professionelle Hilfe benötige, sie ans Tageslicht zu befördern. Dieser Prozess ist langwierig und stellt sich oft als schwere Geburt heraus. Vor allem enden fast alle Gespräche in der
Aporie
, einer Rat- und Ausweglosigkeit: Niemand weiß mehr weiter, und eine Lösung gibt es nicht.
Die sokratischen Dialoge sind nach den Hauptgesprächspartnern benannt. Im vermutlich berühmtesten, dem
Theaitetos
, fragt Sokrates seinen jungen Gesprächspartner Theaitet: Was ist Wissen? Zuerst nennt Theaitet nur Beispiele, doch Sokrates besteht auf einer allgemeinen Definition. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten behauptet Theaitet: Wissen ist ein wahres Urteil. Man könnte auch sagen: eine wahre Überzeugung. Aber auch das befriedigt Sokrates nicht, denn irgendetwas scheint noch zu fehlen.
Ein Beispiel zur Erläuterung: Jemand fragt mich: «Wie spät ist es?», und ich antworte nur zum Spaß: «Viertel nach elf.» Tatsächlich ist es wirklich Viertel nach elf. Ich habe zwar richtig geraten, aber ich hatte kein Wissen. Was fehlt, ist die
Rechtfertigung
für meine Behauptung. Es reicht nicht, etwas Wahres zu glauben, wir müssen auch gute Gründe dafür haben, mit denen wir unsere wahre Überzeugung rechtfertigen können. Ein guter Grund kann zum Beispiel sein, dass ich eine funktionierende Uhr besitze. Die verbesserte Definition lautet also: Wissen ist eine wahre, gerechtfertigte Überzeugung. Zu diesem Ergebnis bringt Sokrates seinen Gesprächspartner.
Theaitets Definition hatte über 2000 Jahre Gültigkeit, bis der amerikanische Philosoph Edmund Gettier kam. Gettier war wie Sokrates davon überzeugt, dass Philosophie im lebendigen
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