Folge dem weißen Kaninchen
winzigen Ausschnitt eines Ausschnitts zu beschränken, aber stets mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Ramachandran ist sich sicher, dass der Stellenwert von « 90 Prozent» aller bildenden Künste vom «Hammer des Auktionators» abhänge, also von zufälligen kulturellen Begebenheiten. Ihn interessiert der Rest, der jedem Kunstwerk zugrunde liegt. Seine zehn Gesetze für diese universellen zehn Prozent lauten: Übertreibung (wir mögen die Extreme), Gruppieren (wir mögen, was zusammenpasst), Kontrast (wir mögen, was sich vom Hintergrund abhebt), Isolation (wir mögen, was unsere Aufmerksamkeit erfasst), Aha-Effekt (wir mögen, wenn wir etwas entdecken), Symmetrie (wir mögen Spiegelachsen), Perspektive (wir mögen den natürlichen Blickwinkel), Wiederholung (wir mögen viel vom Selben), Balance (wir mögen Ausgeglichenes) und Metapher (wir mögen die Übertragung von einem Aspekt auf einen anderen).
Zu jedem dieser «Gesetze» ließe sich viel sagen. Schauen wir uns die Übertreibung an. Trainiert man Ratten darauf, dass sie Futter bekommen, wenn ein Rechteck aufleuchtet, aber keines, wenn ein Quadrat erscheint, dann geraten sie ganz aus dem Häuschen, sobald man ihnen ein extra langes Rechteck zeigt. Ramachandran zufolge ist das lange Rechteck ein «Superstimulus». Irgendetwas im Rattenhirn sagt: «Das ist noch weiter vom Quadrat entfernt als bisher, also gibt es noch mehr Futter.» Denselben Effekt hatte der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen schon vor einem halben Jahrhundert beobachtet: Die Küken der Lachmöwe betteln um Futter, sobald ihre Mutter über dem Nest erscheint. Ein roter Fleck am Schnabel der Mutter funktioniert dabei als Schlüsselreiz. Allerdings reagieren die Nestlinge noch euphorischer, wenn die Forscher eine Attrappe hinhalten: einen Stab mit drei roten Punkten. Der Versuchsstab stellt für sie offenbar eine «Supermutter» dar.
Wir seien wie Ratten und Möwen, sagt Ramachandran. Wir mögen die Übertreibung mehr als das Original. So seien auch Playmates Superstimuli: Karikaturen der Normalität. Ebenso die Chippendales, eine Tanzformation von Bodybuildern, die auf der Bühne blankziehen. Selbst van Goghs Gemälde stellten farbliche Übertreibungen dar ebenso wie supersaturierte Bilder aus der Tierfotografie. Künstler arbeiteten daher mit Verzerrung und Zuspitzung, einer Übertreibung des Gewöhnlichen.
Wer so argumentiert, denkt an kunstvoll verdrehte indische Tempelfiguren oder den Surrealismus, scheint aber die Schwarzweißbilder von Bernd und Hilla Becher nicht zu kennen, die mit Großformatkameras Wasserspeicher, Fördertürme, Hochöfen und andere Industrieanlagen fotografiert haben. Und zwar genau so, wie sie waren. Hätten Möwen Kunstgalerien, so Ramachandran, würden dort nur lange Stäbe mit roten Flecken hängen. Sind wir Menschen so einfach gestrickt? In unseren Museen hängen provokante und feinsinnige Werke, realistische und verfremdete, übertriebene und banale. Ramachandrans Verallgemeinerung trifft einfach nicht zu: Manchmal sprechen uns Karikaturen an, manchmal naturgetreue Zeichnungen. Manchmal ist eine Übertreibung geistreich, manchmal aber auch plump, manchmal ist sie schön und manchmal hässlich.
Ramachandran fragt, welchen evolutionären Vorteil es gehabt haben könnte, dass wir überhaupt Kunst produzieren, und verwirft einige Vorschläge: Kunst diene nicht der Augen-Hand-Koordination und verdeutliche auch nicht Wohlstand, selbst wenn das heute für viele Kunstsammler die Motivation ist. Sie sei vielmehr eine Art Ersatz gewesen für unsere schwache Vorstellungskraft. Mit echten Bildern riefen unsere Vorfahren etwas hervor, was in ihrer Phantasie nur verschwommen existierte. Vielleicht war das wirklich einmal so, aber Ramachandrans Kunst-Prinzipien sind dennoch so allgemein formuliert, dass sie fast den gesamten Schaffensprozess abdecken. Jedes menschliche Werk tut mindestens eines: Es isoliert oder übertreibt, wiederholt oder kontrastiert, metaphorisiert oder fordert die Aufmerksamkeit. Eines der Prinzipien trifft immer zu. Es scheint, als könne Ramachandran alles erklären, aber dadurch kann er in Wirklichkeit gar nichts erklären.
Ramachandran geht noch weiter. Aufgrund der «perversen» Natur moderner Kunst könne jedes der Prinzipien auch umgedreht werden. Aber dann gilt: Alles ist möglich. Spätestens seit den zwanziger Jahren ist das auch so. Doch für diese Einsicht brauchen wir keine Prinzipien. Der tiefere
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