Folge dem weißen Kaninchen
«kalt», «laut», «leise», «weich» oder «rau». Oft wollen wir es noch genauer sagen und benutzen Ausdrücke, bei denen man noch ihre Ableitung von der Quelle oder Ursache des Erlebnisses erkennen kann: «stechender Schmerz», «zitroniger Duft», «verbrannter Geschmack». Manchmal reichen nicht einmal diese Bezeichnungen aus, um ein Parfüm, ein fremdländisches Gewürz oder einen neuen Musikstil treffend zu beschreiben. Wenn wir unsere Erlebnisse in ihrer Vielfalt erfassen wollen, müssen wir genau wie die Weinexperten Vergleiche oder Metaphern heranziehen. Wir sagen: «Fühlt sich an wie Knetgummi», oder: «Schmeckt wie noch einmal aufgewärmt.»
Die Wahrnehmung ist eine der beiden typischen Quellen des Erlebnisbewusstseins: Farben, Laute, Gerüche. Dazu gehören auch Körperempfindungen wie Jucken, Zahnschmerzen, Hunger oder ein Orgasmus. Und natürlich sehen wir nicht nur Farben, sondern wir sehen in einer dreidimensionalen Welt Gegenstände mit einer Gestalt, die massiv oder fragil erscheinen kann.
Die zweite Quelle des Erlebnisbewusstseins sind Gefühle und Stimmungen. Zum Beispiel sind Angst und Ekel beide unangenehm, aber trotzdem unterscheiden sie sich in der Weise, in der sie negativ sind. Gefühle gehen zwar mit Körpererlebnissen einher, also beispielsweise Angst mit Herzklopfen. Unverwechselbare Körpererlebnisse sind aber nicht entscheidend für alle Gefühle. Eifersucht oder Dankbarkeit sind nicht mit so typischen Körpererlebnissen verbunden wie die Angst, haben aber trotzdem einen ganz eigenen qualitativen Charakter.
Unsere Wahrnehmung, unsere Gefühle, Vorstellungen und Gedanken haben Erlebnisqualitäten. Das ist so allgegenwärtig, dass wir kaum darüber nachdenken. Manchmal hört man sogar folgende Reaktion: Wir sehen nun einmal Farben und schmecken Geschmacksnoten – was soll daran so bemerkenswert sein? Das wird oft erst deutlich, wenn wir die Erlebnisqualitäten verlieren. Das müssen nicht so radikale Fälle sein wie die Blindsicht oder eine Farbsehschwäche. Schon ein starker Schnupfen kann einem die Augen öffnen, indem er die Nasenflügel verschließt.
Ein persönliches Erlebnis: Als ich das erste Mal in New York war, hatte ich eine starke Erkältung. Zwei Wochen lang konnte ich die Stadt nur sehen und hören, bis mir ein einfaches Nasenspray eine ganz neue Welt erschloss. Plötzlich war so viel mehr da: der beißende Gestank in den Ecken der Metrostation, der Duft der frischen Bagels in der Bäckerei um die Ecke, der heiße Teer an einer Baustelle am Central Park, die exotischen Aromen in den engen Straßenzügen von Chinatown, Fäulnisschwaden von einer offenen Beinwunde eines Obdachlosen im Linienbus, das Bratenfett der Falafel-Stände in SoHo und die Dunstwolken, die wie Atemstöße aus den kleinen Wäschereien auf den Gehsteig strömen. Das alles war mir entgangen. Ich merkte, dass mein Erleben der Stadt zuvor reduzierter und ärmer gewesen war. Kleines Nasenspray, große Wirkung.
Mit «bewusst» kann man also den Zugang zu Informationen oder das Erleben meinen. Beide Spielarten des Bewusstseins haben eine
Ich-Perspektive
: All unsere Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sind immer an uns gebunden, deshalb spricht man auch oft von der
Subjektivität
des Bewusstseins. Unsere Erlebnisse
gehören
uns in einer besonderen Weise: Sie sind unabtrennbar. Meine Armbanduhr und mein Fahrrad kann ich verleihen, aber nicht meine Glücksgefühle, meine Schmerzen oder meine Tagträume. Natürlich kann ich anderen von meinen Schmerzen und Tagträumen erzählen, aber das ist nicht dasselbe. Jeder hat seinen eigenen Schmerz, ich meinen und Sie Ihren. Wenn Sie und ich Zahnschmerzen haben, dann hat immer noch jeder von uns sein persönliches Schmerzerlebnis. Beide Einzelerlebnisse sind lediglich von derselben Art. Und wenn Sie und ich denselben Gedanken haben, dann haben zwar beide denselben Inhalt, aber es bleiben zwei Gedanken. Mein Schmerz und mein Gedanke sind nämlich an mich als Person gebunden und Ihr Schmerz und Ihr Gedanke an Sie.
Manchmal sagt man von Geschmacksurteilen, sie seien «bloß subjektiv», weil sie von Person zu Person variieren. Bewusstsein jedoch ist in einer noch grundlegenderen Weise subjektiv: Ohne die Ich-Gebundenheit kann man sich gar kein Bewusstsein vorstellen. Bäume, Planeten und Eiskristalle existieren auch ohne Menschen oder andere Wesen mit Bewusstsein, aber Schmerz kann es nicht geben ohne jemanden, der Schmerz empfindet, und
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