Folge dem weißen Kaninchen
Eindrücke zu haben. Patienten wie K. können oft noch mehr, als auf leuchtende Lampen zu deuten, beispielsweise zornige Gesichter von freundlichen unterscheiden, Bewegungen erkennen oder sogar erfolgreich durch einen Hindernisparcours wandern. Keine dieser Fähigkeiten jedoch geht mit visuellen Eindrücken einher. Blindsichtige sehen keine Gesichtsausdrücke und keine Hindernisse. Allenfalls haben sie diese gewisse Ahnung, dass da etwas ist.
Fälle von Blindsicht zeigen sehr anschaulich, dass unser Bewusstsein mindestens zwei fundamental verschiedene Aspekte hat. In der Psychologie und Neurowissenschaft geht es typischerweise um den Aspekt, den man als
Zugang
zu Informationen beschreiben kann, nämlich wenn Informationen oder Gedanken für die Person verfügbar sind. Blindsichtige und Normalsichtige verfügen beide über diese Art von Zugang zu bestimmten Informationen, denn sie können ja zum Beispiel korrekt angeben, ob ein Gesicht freundlich oder zornig ist.
Im Gegensatz zu diesem Aspekt interessiert Philosophen vor allem der
Erlebnischarakter
des Bewusstseins, also das, was Blindsichtigen beim Sehen fehlt. Es fällt schwer zu beschreiben, worin dieses Erleben genau besteht, und noch schwerer, wenn nicht gar unmöglich, es naturwissenschaftlich zu erklären.
Phänomenal
Was ist das Erlebnisbewusstsein nun genau? Stellen Sie sich vor, Sie gehen barfuß über kühles, weiches Moos. Unter Ihren Fußsohlen fühlt es sich auf eine bestimmte Weise an, anders als warmer Sand oder polierter Marmor: Das Moos gibt etwas nach und kitzelt an den Füßen. Vielleicht lässt der kalte Morgentau eine Gänsehaut über Ihren Körper knistern. Viele einzelne Erlebnisqualitäten im Bewusstsein machen Ihr Mooswandern zu dieser komplexen moosigen Erfahrung: das Fühlen der Oberfläche und Temperatur, das Kitzeln, die Gänsehaut, vielleicht sogar der erdige Geruch des Waldbodens oder das lästige Sirren einer Mücke, die sich Ihrem linken Ohr nähert. Das Erlebnisbewusstsein hat immer diesen
Wie-es-ist-Charakter
, sich gerade in diesem Zustand zu befinden.
Statt vom «Erlebnisbewusstsein» spricht man auch vom
phänomenalen
Bewusstsein, aber nicht in der Bedeutung von «großartig» oder «toll», sondern im technischen Sinne von «wie es einem erscheint» oder «wie man es erlebt». Man bezeichnet die Erlebniseinheiten des Bewusstseins manchmal auch als
Qualia
, also als Erlebnisqualitäten.
Manche Wahrnehmungserlebnisse sind ganz grundlegend und einfach. Die Farbe Rot beispielsweise sieht anders aus als Blau, Grün oder Schwarz und ist dabei nicht aus anderen Qualitäten komponiert. In gewisser Weise ist sie ein Erlebnisatom. Sie hat diesen bestimmten grundlegenden, unzerteilbaren Rotcharakter – für Menschen ohne Rot-Grün-Blindheit, muss man hinzufügen, denn wer an dieser Farbsehschwäche leidet, für den sehen bestimmte Rot- und Grüntöne gleich aus. Für Normalsichtige ist das schwer vorstellbar. Eine Möglichkeit, den Effekt zu imitieren, ist, ein Digitalbild mit einem Fotoprogramm so zu bearbeiten, dass es nur noch grünlich-gelb aussieht. Jetzt könnte auch ein Normalsichtiger auf dem Foto nicht mehr zwischen reifen und unreifen Tomaten unterscheiden. Ungefähr so muss die Welt für Farbblinde aussehen.
Bei Weinexperten ist die Fähigkeit, feinere Qualitäten zu unterscheiden, besonders ausgeprägt. Weintrinken erzeugt ein zusammengesetztes Geschmackserlebnis. In alten Burgundern entdecken Kenner Noten von Kirsche, Pflaume und schwarzer Johannisbeere, dazu eine Ahnung von Leder, Muskat oder Lakritze. Einige vernehmen sogar den Hauch von Pferdeschweiß, Florhefe oder Schreinerwerkstatt. Aber auch ohne viel Training kann man der Vielfalt seiner Geschmackserlebnisse auf den Grund gehen: Man probiert einen Wein, jemand sagt: «Kirsche», und plötzlich ist diese fruchtige Note ganz im Vordergrund des Aromaprofils. Das könnte natürlich reine Suggestion sein, aber bei «Stachelbeere» oder «Leberpastete» wäre nichts passiert. Irgendwie war das Kirschenbukett also schon die ganze Zeit da, und das Wort hat nur geholfen, ebendieses eine Element aus dem phänomenalen Gesamterleben zu isolieren.
Am Weinvokabular sieht man sehr deutlich, dass das Erlebnisbewusstsein schwer beschreibbar ist. Nicht nur für Geschmackserlebnisse kennen wir Adjektive wie «süß», «sauer» oder «bitter», sondern auch für andere Sinne der Erfahrung wie Sehen, Hören, Riechen und Fühlen, beispielsweise «rot», «blau», «heiß»,
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