Folge dem weißen Kaninchen
Grund für Ramachandrans Scheitern liegt im Selbstbezug der Kunst. Jeder Künstler schafft etwas Neues, indem er das Alte verändert und ins Gegenteil wendet. Wer eine Leerstelle im Markt besetzen will, muss sich etwas einfallen lassen. Wenn viele Bilder schön sind, kann man etwas Hässliches malen. Wenn die Kollegen gegenständlich arbeiten, kann man abstrakt werden. Wenn vieles stofflich-dreidimensional ist, kann man konzeptuell sein. Und wenn sich der Trend wendet, kann man den Gegentrend zum Gegentrend setzen. Egal, welche Prinzipien ein Wissenschaftler auch finden mag, jeder Künstler kann sie konterkarieren. Das macht die Sache so spannend. Und gleichzeitig wissenschaftlich nicht fassbar.
Wittgenstein hat davor gewarnt, dass eine einseitige «Beispieldiät» zu falschen Verallgemeinerungen führe. Philosophen hätten für ihre Theorien immer dieselben Beispiele bemüht und so entscheidende Phänomene übersehen. Das gilt abgewandelt auch für viele Ansätze in der Neuroästhetik. Natürlich kann man als Neurologe oder Psychologe nicht auf einen Schlag unser Kunsterleben in seiner ganzen Vielfalt erklären. Aber man muss sich dieser Vielfalt bewusst sein.
Kunst spricht unsere Sinne und unsere Gefühle an, sei es Literatur, Musik oder Malerei. Aber ebenso spricht sie unser Kulturwissen und unsere Gedanken an. Kunst fordert all unsere geistigen Fähigkeiten heraus. Das macht sie so besonders. Für jede einzelne Herausforderung muss es eine neuronale Erklärung geben: für den Schönheitsgenuss, das Staunen oder die Verstörung. Am schwierigsten wird die Erforschung der Gedanken sein, denn die sind flüchtig und lösen so viele andere Gedanken aus. Wir können uns also auf weitere Überraschungen der Natur und der Kunst gefasst machen. Wie schön.
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Kapitel 8 Denken Das Rätsel des Bewusstseins
Als K. eines Morgens aus der Narkose erwachte, fand er sich in einem Krankenbett in tiefer Dunkelheit wieder. Um sich herum hörte er die Stimmen der Ärzte und Schwestern. Er riss die Augen weit auf, doch außer einem dunklen Flimmern war nichts vor seinen Augen: keine Schatten, keine Umrisse, keine Bewegungen. Was ist mit mir geschehen?, dachte er. Es war kein Traum. Der Arzt sagte ihm, dass er einen schweren Unfall gehabt habe, bei dem die Sehrinde in seinem Hinterkopf zerstört worden sei. K. war blind, obwohl seine Augen unverletzt geblieben waren.
Einige Tage später bat ihn der Arzt, an einem Versuch teilzunehmen. K. erfuhr, dass man vor ihm eine große quadratische Tafel aufgebaut hatte, auf der zehn Glühlampen in zehn Reihen eingeschraubt waren. Er sollte auf diejenige Lampe deuten, die aufleuchtete. K. verstand den Sinn der Aufgabe nicht. Er fühlte sich vorgeführt. Zorn und Verzweiflung stiegen in ihm auf. «Woher soll ich das wissen?», fragte er ungehalten. Doch der Arzt meinte es vollkommen ernst. Er empfahl ihm, sich einfach auf sein Bauchgefühl zu verlassen. K. begann zu raten: oben rechts, unten Mitte, zweite Reihe halb links. Jedes Mal hatte er eine gewisse Ahnung, obwohl ihm schleierhaft blieb, woher diese Ahnung kam. Zu seiner eigenen Überraschung lag er in den meisten Fällen richtig, weitaus häufiger, als durch bloßes Raten möglich gewesen wäre. Doch wie konnte das sein, wenn er gar nichts sah?
Der Patient K. war in einer ganz besonderen Verfassung: Anders als bei normalen Blinden, bei denen überhaupt keine visuellen Informationen weitergeleitet werden, weil sie ihrer Sehkraft beraubt sind, trafen bei K. alle Lichtstrahlen auf die Netzhaut und liefen als Reize über die üblichen Nervenbahnen bis in das Sehzentrum in seinem Hinterhauptslappen. Doch weil einige Bereiche darin zerstört waren, war auch sein bildliches Erleben erloschen. In K.s Kopf funktionierte alles so wie bei Normalsichtigen, bis auf den allerletzten Verarbeitungsschritt. Die visuellen Informationen hinterließen Spuren und blieben offenbar irgendwo gespeichert. So war K. auf eine Weise bewusst, was vor ihm geschah, denn er konnte ja meistens korrekt angeben, wo eine Lampe leuchtete. Ihm fehlte aber eine Form von Bewusstsein, denn er hatte kein
Seherleben
: Für K. gab es keine Farben und Formen mehr.
Diese paradoxe Sehstörung hat der deutsche Psychologe Ernst Pöppel mit Kollegen im Jahr 1973 erstmals beschrieben. Sein britischer Kollege Lawrence Weiskrantz gab ihr den entsprechend paradoxen Namen:
Blindsicht.
Blindsichtige Patienten haben Zugang zu visueller Information, ohne visuelle
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