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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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etabliert, dass Rezensenten immer einen guten Grund für Lob finden werden, beispielsweise: Serra wirft den Betrachter auf seine Beobachterposition zurück, spielt mit unserem Raumerleben, führt die europäische Tradition der Plastik an ihre Grenzen oder gemahnt mit Rost an unsere Sterblichkeit. Spätestens wenn sich ein konservativer Politiker für den Abriss einsetzt, ist das Werk in der Szene akzeptiert.
    In der Kunstwelt ist es absolut verpönt, «schön» zu sagen. Beliebt sind stattdessen «ästhetisch ansprechend», «überzeugend» oder «spannend». Oft ist das eine Selbsttäuschung, denn in vielen Fällen kann man die Wörter auch durch «schön» ersetzen. Jede dieser Bewertungen sagt: Das Objekt hat mich positiv angesprochen. So verwundert es wenig, dass sich die schöne Kunst immer noch am besten verkauft, auch wenn provokante Objekte auf den ersten Blick angesagter zu sein scheinen. Auffällig viele der auf Auktionen zu Höchstpreisen versteigerten Gemälde stammen von Gustav Klimt, Pablo Picasso und Vincent van Gogh. Oft handelt es sich dabei gerade um diejenigen ihrer Werke, die besonders schön und ornamental sind und deshalb auch als Poster in Studentenwohnungen und Wartezimmern von Zahnärzten hängen.
    Viele zeitgenössische Künstler wollen angeblich nichts Schönes schaffen, sondern lieber unsere «Sehgewohnheiten in Frage stellen» oder irgendetwas «aufbrechen», am liebsten «verkrustete Strukturen». Franz Kafka hat dasselbe über die Literatur gesagt: «Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.» Ob Axt, Brechstange oder Augenwischer, in allen Metaphern geht es um die Wirkung der Werke auf uns, sei es unmittelbar oder über Umwege. Daher kann man die Künste auch nach ihren Effekten einteilen. An dem einen Ende befindet sich Kochkunst, die unsere Sinne und Gefühle unmittelbar trifft. Dann kommt irgendwann die Musik und ganz am anderen Ende die Literatur, die zunächst unsere Gedanken und die Vorstellungskraft anspricht und erst darüber Gefühle auslöst. Die bildende Kunst bedient alles zwischen den Extrempunkten: Einige Werke hauen uns um, bringen uns in Aufruhr, überraschen uns jäh und unvermittelt, ohne dass wir anfangs sagen können, warum. Andere müssen wir interpretieren und einordnen. Erst durchs Nachdenken verstehen wir die Ironie, die Anspielungen, das Originelle. Der Schönheitsgenuss fehlt bei einigen Werken und ist bei anderen nur eine Wirkung von vielen. Kann man auch die übrigen Effekte erklären?
     
    Lange haben Kritiker die bildende Kunst aus der Perspektive der Literaturwissenschaft betrachtet. Im Vordergrund stand die Interpretation von Symbolen und Metaphern. Man fragte sich, wie man das Kunstwerk in der Geschichte einordnen könne. Es ging um die
Intertextualität
, also die Verweise des Werkes auf andere Werke, um die Anspielungen und Zitate im Werk und um die Auseinandersetzung mit den großen Kulturthemen wie Sex, Tod, Macht, Wirklichkeit. Die Gefühle und die Sinnlichkeit des Kunsterlebens spielten keine besondere Rolle, zum einen, weil sie als bloß subjektiv galten und damit als wissenschaftlich nicht erforschbar. Zum anderen sicherlich auch, weil im Moment der kühlen Reflexion und Interpretation die warmen Gefühle immer schon verflogen sind.
    Der amerikanische Philosoph Jerrold Levinson vertritt diese intellektuelle Perspektive. Ihm zufolge haben wir erst dann Vergnügen an Kunst, wenn wir sie begreifen und darüber nachdenken. Sein Kollege Kendall Walton meint, wir suchten nach dem Wertvollen in der Kunst, nach etwas, das in uns Bewunderung auslöst. Beide klingen ein bisschen wie der Oberstudienrat, der seinen Schülern auf dem Ausflug ins Museum immer wieder sagt, Kunst solle «zum Nachdenken anregen». Manchmal regt Kunst tatsächlich zum Nachdenken an. Aber oft macht sie auch nur Spaß oder hat überhaupt keinen beabsichtigten Effekt.
    Dieser traditionellen Perspektive setzen Forscher in jüngster Zeit eine emotionale entgegen. Sie fragen, was Kunst in uns auslöst: nach den Gefühlen und den erlebten Effekten, oft unter Berufung auf Ergebnisse der Emotions- und Bewusstseinsforschung. Wie erzeugen Bilder und Skulpturen Ekel und Bewunderung, Spaß und Verwirrung, Lust und Staunen? Warum strahlen einige Werke Ruhe aus, während andere eine schiere Provokation darstellen?
    Der amerikanische Philosoph Jesse Prinz glaubt, dass unsere ästhetische Wertschätzung einem grundlegenden Gefühl entspringt. Bewunderung könne nicht dieses

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