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For the Win - Roman

For the Win - Roman

Titel: For the Win - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cory Doctorow
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ihn. Er war nicht der erste Junge, der unter Tränen durch Shenzhen lief, und er würde auch nicht der letzte sein. Er stieg in irgendeinen Bus, zahlte und setzte sich hin. Dann vergrub er das Gesicht in den Händen und unterdrückte sein Schluchzen. Er war schon eine ganze Stunde unterwegs, ehe er den Kopf wieder hob und schaute, wo er gelandet war.
    Da musste er lächeln. Irgendwie hatte er den Bus nach Dafen erwischt, zum »Künstlerdorf«, wo Tausende von Malern in kleinen Fabriken Millionen von Ölgemälden produzierten. An einem ihrer seltenen freien Tage war er mit Ping und den anderen mal hierher gefahren. Sie waren durch die engen Straßen gewandert und hatten all die Gemälde bestaunt, die an den Ständen, vor den Läden oder in den Galerien aushingen. Die meisten waren in altmodischem europäischem Stil gehalten und zeigten Szenen aus europäischen Städten, formschöne Früchte auf Tischen oder den leidenden Jesus (bei solchen Bildern zuckte Matthew immer zusammen und musste an die Geschichten seines Vaters über die Zeit der Verfolgung denken). An manchen Ständen konnte man den Malern zuschauen, wie sie, völlig in ihre Arbeit vertieft, mit geschickten kleinen Pinselstrichen Gemälde aus Büchern kopierten. Die Bücher wiederum wurden in Dongguan hergestellt – Matthew kannte ein Mädchen, das in dem Betrieb arbeitete, wo sie gedruckt wurden. Ein seltsames Gefühl hatte Matthew beim Anblick all dieser Künstler befallen, die mit geschickter Hand und wachem Auge Gemälde für Ausländer herstellten, die niemals nach China kommen und diese Hände und Augen sehen würden.
    Der Bus hielt nahe der fünf Meter hohen Skulptur einer Hand mit einem Pinsel. Zu Dutzenden stiegen die Fahrgäste aus. Überall um sie herum erhoben sich hohe Wohnhäuser und lang gestreckte Arbeitshallen. Die Luft roch nach Frühstück, Ölfarben und Terpentin.
    Matthew riss sich aus seiner Starre und schloss sich dem Strom der Arbeiter an, der sich nach Dafen hineinschlängelte. Die meisten hatten farbverkleckste Arbeitskleidung an und trugen Malkästen aus Holz unter dem Arm, grüßten ihre Freunde und tauschten Neuigkeiten aus.
    Er kam an einer kleinen Galerie vorbei. Letztes Mal hatte er sich hier zeitgenössische Kunst angesehen, die Szenen des alltäglichen chinesischen Lebens zeigte. Er hatte vorher nie viel für Gemälde übriggehabt, diese aber hatten ihn umgehauen. Auf einem hatte man vier Arbeitermädchen gesehen, alle jung und hübsch, mit Handys und Designertaschen. Sie liefen während des Mondfestes Arm in Arm eine Dorfstraße entlang, und an allen Läden und in allen Fenstern hingen Laternen. Das Dorf war alt und arm, das Straßenpflaster hatte Risse, und die Gesichter der Leute am Straßenrand waren faltig und eingefallen. Für sie waren die vier Mädchen wundersame Wesen aus einer anderen Welt, Kinder, die man fortgeschickt hatte, um ihr Glück zu finden, und die nun, da sie zurückgekehrt waren, zu einer völlig anderen Spezies zu gehören schienen.
    Ein anderes Bild hatte eine alte Großmutter gezeigt, die in Dongguan an einer Bushaltestelle schlief. Ihr zahnloser Mund war weit geöffnet, und als Decke benutzte sie einen zerschlissenen, schmutzigen Maßanzug, wahrscheinlich gefälscht. Auf einem weiteren Bild verlegte ein Kantonese, der auf einer Leiter stand, gerade eine illegale Leitung zwischen zwei eng stehenden Häusern. Die Bilder waren so treffend und schmerzlich und schön gewesen, dass Matthew nur dagestanden und sie angestarrt hatte, bis die Galerie ihn schließlich hinauswarf. Die Bilder waren schließlich für Leute mit Geld gedacht, nicht für solche wie ihn.
    Die Erinnerung überkam ihn wie ein Schlag, als er auf einmal das Bild mit den vier Mädchen im Fenster wiedersah. Es hatte sich nicht verkauft – oder aber der Maler produzierte das Motiv wie am Fließband. Vielleicht gab es eine ganze Fabrik, die nur dieses eine Bild herstellte.
    Da drang aus der Ferne ein Gewirr wütender Stimmen an sein Ohr. Er hatte es schon eine ganze Zeit lang wahrgenommen, aber nicht richtig darauf geachtet. Jetzt wurde es immer lauter, und er war nicht der Einzige, dem es auffiel. Es war ein Sprechchor, unermüdlich und aufbrausend, begleitet vom rhythmischen Stapfen vieler Füße. Die Menge reckte die Hälse, um einen Blick auf die Störenfriede zu erhaschen, und er gesellte sich zu ihnen.
    Sie bogen um eine Ecke, und Matthew erblickte eine Gruppe farbverschmierter junger Männer und Frauen, die Pappschilder mit Slogans

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