Forbidden
sind.
Ich werde zu dem grauen Plastikstuhl geführt, der auf der anderen Seite des Tisches steht, weniger als einen halben Meter von der Tischkante entfernt, mit dem Rücken zum Eingang. Wir könnten genauso gut alle miteinander in einem Käfig eingesperrt sein. Auf einmal wird mir bewusst, wie verschwitzt ich bin, wie mir die Haare auf der Stirn kleben, wie auf meinem dünnen T-Shirt die Schweißflecken zu sehen sind. Ich fühle mich schmutzig und abstoßend, habe einen bitteren, metallischen Geschmack im Mund. Und trotz der undurchdringlichen Mienen des Mannes und der Frau ist ihre Abscheu in dem kleinen, geschlossenen Raum geradezu körperlich spürbar.
Seit ich hereingebracht wurde, hat der Mann kein zweites Mal aufgeblickt. Er scheint sich in einer Akte Notizen zu machen. Als er endlich seine Augen auf mich richtet, zucke ich zusammen und will automatisch meinen Stuhl zurückschieben, aber er lässt sich nicht verrücken.
»Dieses Gespräch wird auf Band und auf Video aufgezeichnet.« Augen, hart wie kleine graue Kieselsteine, bohren sich in meine. »Haben Sie etwas dagegen?«
Als ob ich eine Wahl hätte. »Nein«, sage ich. Ich bemerke die auf mich gerichtete Kamera oben unter der Decke. Schweiß bricht mir aus.
Der Mann drückt auf den Knopf irgendeines Aufnahmegerätsund spricht eine Nummer hinein, gefolgt von Datum- und Zeitangabe, und fährt dann fort: »Anwesend meine eigene Person, Detective Inspector Sutton. Rechts neben mir Detective Inspector Kaye. Gegenüber der Tatverdächtige. Würden Sie sich bitte selbst ausweisen?« Zu wem spricht er da? Zu anderen Polizisten, Kommissaren, Psychologen? Zum Richter oder Staatsanwalt? Wird diese Aufzeichnung vor Gericht abgespielt werden? Wird meine eigene Schilderung dessen, was ich getan habe, die Schilderung meines verabscheuungswürdigen Verbrechens, meiner Familie vorgespielt werden? Werden sie Maya zwingen, sich mein Geständnis anzuhören? Wie ich mich durch das Verhör quäle und abschließend noch einmal gefragt werde, ob ich auch wirklich die Wahrheit gesagt habe?
Daran darfst du jetzt nicht denken. Hör auf, daran zu denken – konzentrier dich auf die Situation jetzt, auf dein Auftreten, deine Worte. Alles, was du sagst, muss vollständig überzeugend klingen.
»Lochan Whi …« Ich räuspere mich; meine Stimme ist rau und heiser. »Lochan Whitely.«
Die nächsten Fragen sind schnell abgehakt: Geburtsdatum? Nationalität? Adresse? Detective Sutton blickt kaum auf, macht sich entweder Notizen oder blättert hastig durch meine Akte, seine Augen gleiten schnell über das Papier.
»Wissen Sie, warum Sie hier sind?« Er blickt plötzlich hoch.
Ich nicke. Und schlucke dann. »Ja.«
Mit gezücktem Stift schaut er mich weiter an, als warte er darauf, dass ich fortfahre. »Ich bin hier, weil ich – wegen des sexuellen Missbrauchs meiner Schwester.« Meine Stimme klingt gepresst, aber ich habe mich unter Kontrolle.
Die beiden Wörter »sexueller Missbrauch« hängen in der Luft. Gewaltsam von mir hervorgestoßen, jeder Buchstabe eine kleine rote Stichwunde. Obwohl die beiden Kommissare das alles schriftlich vor sich liegen haben, macht es einen riesengroßen Unterschied, es vor der Videokamera und einem Aufnahmegerät noch einmal laut auszusprechen. Damit wird es plötzlich zur unumstößlichen Tatsache. Es gibt kein Zurück mehr. Ich habe schon fast nicht mehr das Gefühl, zu lügen. Vielleicht gibt es auch nicht die eine Wahrheit. Was für mich Liebe ist, Liebe zu meiner Schwester, ist für sie sexueller Missbrauch, die sexuelle Nötigung eines minderjährigen Familienmitglieds. Vielleicht stimmt ja beides.
Und dann fangen sie mit den Fragen an.
Zuerst wollen sie die ganzen Hintergrundinformationen wissen. Endlos viele quälende Fragen: wo ich geboren wurde, wie alle Familienmitglieder heißen, die jeweiligen Geburtsdaten, Einzelheiten zu unserem Vater, mein Verhältnis zu ihm, zu meinen Geschwistern, zu meiner Mutter. Ich bleibe so nahe wie möglich an der Wahrheit, erzähle ihnen sogar von den späten Arbeitszeiten unserer Mutter in der Kneipe, von ihrer Beziehung zu Dave. Ich achte darauf, auszusparen, was Mum und Kit hoffentlich auch aussparen werden: Mums Alkoholproblem, die ewigen Geldsorgen, dass sie inzwischen bei Dave wohnt und sich um ihre Kinder überhaupt nicht mehr kümmert. Stattdessen erzähle ich ihnen, sie hätte erst vor Kurzem mit den Spätschichten angefangen und dass sie mich gebeten habe, abends auf die Kinder
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