Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
über dich öffnen! Vielleicht ist
sie schlau genug, sich nach ’nem anderen umzusehen, bevor es zu spät ist!“
Für einen Moment sah es so aus, als würde dieser
Streit noch in Handgreiflichkeiten ausarten – und James musste sich ein Grinsen
verkneifen, weil das alles so bescheuert war und die beiden sich so verdammt
ähnlich sahen in ihrer Wut. Aber dann rettete Piro die Situation, indem er das
tat, worauf James schon die ganze Zeit gewartet hatte: Er fing an zu brüllen
und lenkte damit alle Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich.
Danach wurde es wieder ruhig im Wagen. Der Jäger
kämpfte mit dem Schlaf, Stanwell starrte missmutig hinaus, Piro schlief an
Nellas Brust ein. Der heiße Wind dörrte ihre Kehlen aus, sodass auch die, die
noch wach waren, keine Lust auf Unterhaltung verspürten. Die rotbraune
Landschaft zog vorbei, so öde, dass man sich freute, als wieder die ersten
Baumskelette in Sicht kamen.
James döste. Jeder Knochen seines erschöpften Körpers
schien die ungewohnte Ruhepause heute zu genießen und in einen tiefen Schlaf
fallen zu wollen. Zwischen den Wimpern seiner halbgeschlossenen Augen sah er
das ewige Rotbraun vorbeiflimmern. Inglewings leises Pfeifen hörte er wie aus
weiter Ferne … vertraute Melodie … Brogue hatte das heute Morgen noch gespielt,
aber er kannte es auch von drüben, von zuhause … irgendein altes Lied … Immer
wieder sackte ihm der Kopf plötzlich vornüber oder zur Seite und weckte ihn
gerade so weit, dass er sich wieder bequemer hinsetzen konnte. Durch sein
schläfriges Bewusstsein ging der Traum wie eine Welle, die langsam zurückflutet
und nassen Sand und Angeschwemmtes freilegt –
„Der Laternenbaum –“ So unvermittelt wie er
davongedriftet war, war er auch wieder wach.
Vor ihm zuckte der Jäger aus dem Schlaf. „Hm – was?
Was ist los?“
„Der Laternenbaum, da!“, wiederholte James, hellwach
jetzt, und zeigte nach draußen. „Halt an! Dorian, halt mal an!“
„Laternenbaum?“
Aber für Fragen hatte er keine Zeit. Er quetschte sich
an Gerringer vorbei, öffnete die Tür und sprang aus dem fahrenden Wagen.
Übergangslos raste sein Herz, als er zu dem Baum am Wegrand aufsah. Sie waren
am Morgen schon hier vorbeigekommen, und auch da hatte sich etwas wie eine
Erinnerung in ihm geregt. Aber jetzt, von dieser Seite aus, erkannte er ihn
genau: den geteilten Stamm, wie ein gespaltenes Fass, die hochgereckten Äste
und die großen Misteln darin, die in der kahlen Krone ein Muster bildeten, dessen
Sinn er nicht verstand, das er aber unzweifelhaft wiedererkannte. Das war der
Laternenbaum aus seinen Träumen. Der stand hier, in Orolo, im Anderland.
Auf einmal war er wieder sieben Jahre alt und wollte
nur mit gesenktem Kopf daran vorbeischleichen in der verzweifelten Hoffnung,
dass sie ihn dann nicht bemerken würden. Aber er hatte immer gewusst, dass sie
ihn trotzdem sahen, dass sie genau auf ihn gewartet hatten mit ihren starr
grinsenden Gesichtern, hinter denen –
Und er spürte, wie das Entsetzen seine Füße am Boden
festkleben wollte. Nein. Heute würde er dem Spuk ein Ende machen. Würde
hinaufklettern und ihnen in die Gesichter sehen, Misteln oder Laternen oder was
sie auch sein mochten.
Die narbigen Buckel auf dem Stamm boten nur wenig
Halt. Zwei-, dreimal rutschte er ab, feingekörnte Rinde barst unter seinen
Händen – dann hatte er den untersten Ast doch erreicht und schwang sich daran
hinauf.
„James! Was hast du denn vor? Die Misteln sind
wertlos! Die sind zu alt!“, rief es hinter ihm her. Der Wagen hatte angehalten,
Inglewing, Gerringer und Stanwell glotzten verständnislos – konnte man ihnen
nicht verdenken. Aber nichts würde ihn jetzt mehr aufhalten, bevor er nicht
endlich herausgefunden hatte, was es mit diesem Albtraumbaum auf sich hatte.
Er kletterte konzentriert, hörte seinen Atem schnell
und angestrengt über dem gelassenen Rascheln, das der Wind in den Dingern da oben produzierte … fühlte den Schweiß an seinen Schläfen herunterrinnen …
versuchte selbst jetzt noch, nicht hinaufzusehen, um nicht gesehen zu werden. Blödsinn,
denn es waren nur Misteln. Die er jetzt ernten würde, die drei Misteln, die da
oben hingen und ihre langen Zweigebärte bis in seine Träume hinabbaumeln
ließen.
„Damit habt ihr wohl nicht gerechnet, ihr kleinen
Scheißer, was? Dass ich selbst kommen würde, um euch zu holen?“, murmelte er,
während er verbissen weiterkletterte. „Ich rede mit Bäumen und Misteln … ich bin
der
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