Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
Mistelflüsterer … klar bin ich verrückt, aber mal ehrlich, an meiner Stelle
wärt ihr das auch …“
Es war das nackte Entsetzen, das sich wie eine Zange
um ihn legte und ihn brabbeln ließ. Schließlich blickte er von seinen
aufgeschürften, zitternden Händen auf und sah hinauf, wo die grünen Kugeln wie
ein düsteres Sternbild vor dem blassen Himmel standen.
„ Parsley, sage, rosemary and thyme –“, summte
er das Lied, das er eben im Wagen aufgeschnappt hatte. Noch fünf Meter – vier –
zwei –
Und plötzlich war er wieder da, der Jäger, der in der
Orolonacht gejagt hatte und glücklich gewesen war – der hatte auch hier gejagt,
im grellen Mittagslicht … hier hatte er auch gejagt –
Sein Atem ging jetzt keuchend, verzerrte das Summen,
mit dem er nicht aufhören konnte. Ernten, er musste sie ernten und endlich
nachsehen, was für ein Geheimnis sie so höhnisch vor ihm verbargen –
Mistel Nummer eins ließ sich ganz leicht vom Ast
lösen. Das Transportproblem war schon schwieriger, vor allem, weil er nicht nur
eine, sondern gleich drei mitnehmen musste nach unten. Er knotete sich die
langen Ranken schließlich um die Schultern. Misteln Nummer zwei und drei hingen
dicht beieinander, wie Zwillinge. Wie ein altes Ehepaar. Auch hier mürbes
Wurzelgesteck, nur allzu bereit, den Ast aus einem jahrzehntelangen Griff zu
entlassen –
Unten brüllten sie, aber er hörte gar nicht mehr hin.
Was kümmerten ihn die Dämonen, die nach Gerringers Ansicht in diesen Bäumen
wohnten? Er kannte sie ja. Wer hätte sie besser gekannt als er!
Mit drei Misteln beladen hatte er ordentlich
Schlagseite, als er hinunterkletterte. Wieder rutschte er ab, konnte sich eben
noch halten. Die letzten dreieinhalb Meter sprang er – fühlte den Aufprall bis
unter die Schädeldecke. Dann stand er auf festem Boden.
„Was machst du denn bloß?“, schrie Inglewing. „Willst
du dich umbringen oder was? Was willst du mit diesem Grünzeug?! Es ist wertlos,
Mann! Das versuchen wir dir seit zehn Minuten klarzumachen! Da, siehst du das?
Keine Beere dran! Nicht eine einzige!“
„ She once was a true love of mine “, summte er.
„ James ! Hörst du mich nicht?“
Und jetzt ging’s ans Auspacken. Er zog die Ranken über
seinen Kopf und schüttelte sich. Blättchen waren in sein Hemd gefallen, klebten
überall auf seiner Haut, rieselten aus seinen Haaren. Kein Pacculi, diesmal
nicht. Nein, der Pacculi, der in diesen Misteln einmal gehaust hatte, war schon
lange ausgeflogen. Lange, lange. Immerhin hatte er aber die nützlichen Höhlen
in der Mitte zurückgelassen. Perfekte kleine Verstecke – für perfekte kleine
Kostbarkeiten. Heute war Erntetag.
Er sah, wie seine Finger zitterten, aber er konnte das
Zittern nicht fühlen und auch nicht die Angst, die diese Hand zurückscheuen
ließ, diese James-Hand … die hatte was Bedauernswertes in ihrer Panik, ja, die
konnte einem fast leidtun – aber so schlimm war es ja gar nicht. Sie musste nur
reingreifen in die Höhle zwischen den Blättern und den rundlichen Gegenstand
hervorziehen –
„ Are you going to Scarborough Fair “, singsangte
es in seinem Hirn, wo die Verse munter weitersprudelten, Verse, die er nie
gekannt hatte – bis das Ding dann wie eine altersgedörrte Grapefruit in seiner
Hand lag und James einen Krächzer von sich gab, der dem Summen ein Ende
machte.
Hinter ihm keuchte jemand auf, und Gerringer, der sich
gerade über ihn beugen wollte, zuckte zurück. Alle starrten auf das, was auf
seiner Hand lag.
Das Gesicht war eingeschrumpft, aber sonst
hervorragend erhalten – gute Arbeit, meinte der Orolo-Jäger in James‘
leergefegtem Kopf. Die Kiefer waren halb geöffnet geblieben, wie in einem
resignierten Aufseufzen, die Mundwinkel erschlafft herabgesunken. Wie
ausgetrocknete, versteinerte Fruchtschalen klebten die Lippen über den gut
erhaltenen Zähnen. Am schlimmsten waren die Augen: schwarze Beeren, in denen
Hass zu einer Flüssigkeit geronnen schien, die dann eingetrocknet war. Von der
Angst, die diese Augen gebrochen haben musste, war nichts mehr übriggeblieben.
Der tote Kopf hatte sein eigenes Leben begonnen, dort in seinem Versteck,
während all der Jahre im stetigen dörrenden Wind.
James fühlte ein heißes Kratzen in seiner Kehle. Er
hätte schreien müssen, aber er brachte nur einen erstickten Laut heraus. Er
hockte im Staub und hielt mit beiden Händen diesen Kopf fest, fühlte, wie die
Zacken der durchtrennten Halswirbel sacht in seine
Weitere Kostenlose Bücher