Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
da
unsichtbar sind und keine Schatten werfen.“ Gerringer hörte auf zu kauen und
betrachtete James mit einem mitleidigen Blick. „Ich hab noch mal nachgedacht
über deine Empuse. Es war doch Mittag, richtig? Und gesehen haste auch
nichts, außer Augen?“
Oh Gott. Und das Blut –! Das Blut in diesem
grässlichen Traum, das plötzlich in die Rinne floss –
„Tut mir leid für dich, aber das passt alles.“
„W-w-wie suchen sie sich den Lebenden aus? Muss – muss
er ihnen ähnlich sehen?“ Sein lächelndes Spiegelbild, das den Finger vor den
Mund legte – psst !
„Hä? Nee, warum sollte er – nee, das glaub ich nicht.
Denk mir, die greifen sich den Erstbesten, der ihnen nützlich erscheint. Trink
mal was von deinem Kaffee, Hakemi, der ist gut.“
Kaffee. Ich bin verrückt … besessen … infiziert ,
und der sagt, ich soll Kaffee trinken.
„Über all dem darfst du nicht vergessen, was sie
eigentlich sind: Irrgänger nämlich, arme Schweine, die sich verlaufen haben.
Die musste auf den richtigen Weg zurückschicken. Und dafür gibt’s Mittel! Das
ist nicht so wie mit ’nem Dämon. Das waren Menschen, wie du und ich.“
„Was? Was kann man machen?“
„Meistens bringen sie dich selbst dahin, wo sie
unbedingt noch mal hinwollen. Hast du doch heute erlebt, würd ich sagen.“
„Du meinst – es war also wirklich dieser Dagger … und
er wollte – wollte noch mal den Kopf von dieser Amelia –“
„Komm schon, Mann. Ist doch gut. Ist ja jetzt gut. Den
haste ihm doch geholt. Das war’s doch vielleicht schon.“
Das ist Irrsinn. Sonst nichts. Ich träume, ich träume
immer noch. Ich träume seit Wochen. Nichts von all dem ist real!
„Vielleicht hat er’s ja bereut“, überlegte Gerringer
und hob den Becher auf, der James aus den Händen gefallen war. „Vielleicht
wollte er ihr nach allem wenigstens ’ne richtige Bestattung gönnen. Da haste
übrigens was Interessantes gesagt, heut Mittag: dass die Toten einen nicht
verfolgen können, wenn man ihnen den Kopf und die Haare abschneidet –“
„Ja … besser noch, man nimmt ihnen das Gehirn und …
und isst es … irgendein Volksstamm macht das so –“, murmelte James. Woher kam
dieser Quatsch? Wo hatte er das gelesen?!
„Das hab ich noch nie gehört. Hier in Orolo glauben wir,
dass man den Körper so unversehrt wie möglich bestatten muss, damit die Seele
Ruhe findet. Deshalb haben sie ja damals auch alle so sehr nach dem Kopf
gesucht.“
Da war es wieder: Wie eine Wunde, die einfach nicht
verheilen will, bis dieses Brennen, diese gereizte Stelle einen verrückt
machte. Reue?! Auf jeden Fall etwas, das ihn ziellos umhertrieb, ihn mit dem
Bedürfnis erfüllte, andere ebenso leiden zu lassen – und zugleich mit dem Wunsch,
sich endlich zu ergeben.
Das waren doch eindeutig nicht seine Gefühle!
„James?“
Mit Gewalt drängte er das zurück und klammerte sich an
seinen Verstand. Es gab da etwas, das er unbedingt klären musste. „Erzähl mir
mehr über diese Amelia-Geschichte! Wieso weißt du darüber überhaupt Bescheid?“
„Wie gesagt, der Fall hielt damals ganz Orolo in Atem.
Ich bin zwar erst im Jahr von Daggers Hinrichtung geboren, aber als ich mit
zwölf Jahren zur Gelichtergarde kam, war Olain Birchiter mein erster Ausbilder.
Amelias Vater, verstehst du. Verbrachte seine ganzen letzten Jahre damit, den
Kopf seiner Tochter zu suchen. Wollte sie wenigstens anständig begraben. Dieser
Dagger muss ein ganz besonders mieses Schwein gewesen sein. Amelia war nämlich
sozusagen seine Nichte – jedenfalls war sie die Nichte seiner Frau Persepha,
ging bei ihnen im Haus ein und aus. Jeder in der Garde, bis hinunter zu den
kleinsten Anfängern, kannte damals die Geschichte. Amelias Gesicht sah einen
jahrelang von der Wand jedes Winkelmeisterhauses, jeder Custodianstation an –
war ’ne Schönheit, genau wie ihre Tante. Hatten beide dieses ganz besondere
Haar: so lange Locken und eine Farbe wie Honig –“
James stöhnte. Das war wie ein letzter Schlag. Er
hatte Orla nicht dazugedichtet. Diese Amelia hatte tatsächlich wie Orla
ausgesehen! Es war der Beweis für Gerringers Theorie. Er hatte Orla schon die
ganze Zeit mit Daggers Augen gesehen. Deshalb war sie ihm so vertraut
vorgekommen!
Wieder würgte es ihn. Er wollte das auskotzen, diesen
Fremden, der sich in seine Gedanken, seine Gefühle schlich – so ekelhaft,
selbst wenn er kein Mörder gewesen wäre. Er hörte sich keuchen und schlucken,
die dunklen Gipfel drüben
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