Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
ihn
wieder argwöhnisch an. James wandte den Blick ab und gab von da an vor, aus dem
Fenster zu sehen.
Er hatte schreckliche Angst. Eine tiefere, kältere
Angst, als er sie je empfunden hatte. Parasiten oder Geister … machte es
überhaupt einen Unterschied? Was sich hartnäckig vor seinen Augen hielt, war
das Bild von einem Eisberg in arktischer Dunkelheit. Ein weißer Keil, aufragend
in die Nacht … und darunter, oh, darunter in der schweigenden, schwarzen Tiefe
–
2
Sie
holten die Truppe auf der letzten Meile vor Membris ein. Das Dorf lag fast
versteckt in den Felsen, hoch über dem Éllambru, ähnlich wie Qamar, aber viel
weniger spektakulär. Seine Bewohner wollten keine Vorstellung sehen. Sie
wollten überhaupt keine Fremden am Ort haben. Widerwillig wurde dem Stern
von Montagu ein enger Winkel auf der Seeseite zugewiesen, wo ihre Wagen
kaum Platz fanden und man aufpassen musste, dass man nicht plötzlich am Abgrund
stand. Aber an diesem Abend war das der Truppe egal. Schon als sie Inglewings
Wagen gesichtet hatten, waren alle, die nicht kutschieren mussten, ihnen
entgegengestürmt. Als sie Nella und Piro sahen, wurden ihre vier Retter wie
Helden empfangen. Und sobald das Lager stand, kochten die Frauen ein üppiges
Abendessen und feierten so in unausgesprochenem Protest gegen die
Kaltherzigkeit des Chefs Nellas Rückkehr. James und die drei anderen Retter
bekamen die besten Stücke des Ziegenbratens serviert und tränenreiche Dankesbezeugungen
von Aruza dazu. Man hätte alles andere über dem Trara vergessen können. Wenn
man es nur gekonnt hätte.
Jedenfalls herrschte reinster Sonnenschein, bis Nella
den nächsten Streit anfing, diesmal mit ihrer Schwiegermutter, Jujuna Tirp.
„Willst du denn gar nicht wissen, wie es deinem Sohn
geht?!“, kreischte sie über Piros Haarschopf hinweg. „Wir fahren an Tulsa
vorbei, aber du, du fragst nicht mal, ob du ihn besuchen darfst!“
„Wir fahren nicht gerad dran vorbei, Nella“,
berichtigte Jujuna sie gelassen. „Und in zwei Monaten ist Eske sowieso –“
„Ha, du bist doch froh, dass er weg ist! Weil du dann
in aller Ruhe weiter mit Firn –“
„ Nella !“, schnauzte Aruza.
Und so weiter. Es war nicht zum Aushalten. Das ewige
Gelaber und Gedrängel, der Geruch nach Ziegenbraten, und jetzt auch noch diese
keifenden Zicken – gab es denn nirgends einen ruhigen Fleck, wo man einfach
herumsitzen oder, verdammt noch mal, wenn nötig auch zusammenklappen konnte?!
Seit Stunden versuchte er die Fassung zu bewahren, hoffte auf ein paar Minuten Alleinsein,
wo er nicht länger eine allgemein verträgliche Miene aufsetzen musste. Aber
jetzt war das Maß voll. Er floh, bevor Nella zum nächsten Brüller ansetzen
konnte. Wenigstens hatten sie das Gelichternetz noch nicht über das Lager gespannt.
Noch war ja auch Tageslicht hier oben auf den Felsen von Membris. Trotzdem
stolperte er im Gewirr der Felsbuckel dann beinahe über Gerringer, der es wohl
ebenfalls vorgezogen hatte, beim Essen seine Ruhe zu haben.
„Vorsicht, Hakemi! Da vorn geht’s ziemlich tief nach
unten!“
Erst jetzt sah James, dass der Rastplatz des Jägers
kaum zwei Meter vom Abgrund entfernt lag.
„Setz dich, Mann! Nicht, dass du noch abstürzt! Bist immer
noch wacklig auf den Beinen, was?“
Er zögerte nur kurz – eigentlich wollte er lieber ganz
allein sein – aber mit dem Jäger musste er ja doch reden. Er lehnte sich dicht
an die Felsen und inhalierte den Palinteduft, der den Mann umgab. Zwischen zwei
Klippennasen konnte er auch im Sitzen noch in die Tiefe sehen – dort verdeckte
wieder grünlichgrauer Nebel den Spiegel des Sees.
„’n Stück Dörrfleisch?“
Herrgott! Er brachte mit Mühe ein Neindanke heraus,
kämpfte die Kotze herunter, die ihm beim Anblick des getrockneten
Fleischstreifens bitter in die Kehle schoss, und sah schnell weg, zu den
gezackten Gipfeln drüben über der Südseite des Sees. Dunkel stießen sie ins
Graurosa des Abendhimmels, waren so fern von dem, was ihn verrückt machte –
aber es half nichts. Das Bild war wieder da. Dieser elende Kopf, über den sich
das lebendige Mädchengesicht wie eine Erinnerung legte. Dem sein
Unterbewusstsein ausgerechnet die Züge von Orla gab –
„Hast da ’ne Menge Sachen gewusst, vorhin. Junge,
Junge! Das war schon beeindruckend!“
Die Köpfe mussten immer noch in diesem Rucksack sein!
Seine Atemzüge, die sich gerade beruhigt hatten, wurden wieder panisch – konnte
er wirklich dieses Zeug riechen –
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