Formbar. Begabt
aus.
Denise befehle ich das erneute Heben des Blattes inklusive Umblättern, während ich dem Lehrer die Anweisung gebe, weiterhin mit gesenktem Kopf in seine Arbeit vertieft zu bleiben.
Meine erste Beeinflussung zweier Menschen zugleich und sie funktioniert! Ein bewunderndes Raunen geht durch die Klasse, als meine Mitschüler bemerken, dass Denise erneut die Risikobereitschaft besitzt, ihr Blatt hochzuhalten und damit die Unaufmerksamkeit des Lehrers verhöhnt. Ich lasse die nächste Seite auf meinem Block erscheinen, überfliege hektisch Denise' Lösung und schreibe sie anschließend in eigenen Worten auf den Bogen. Gut, die Hälfte wäre geschafft.
Allerdings werden die nächsten beiden Aufgaben heikel, denn Denise hat ihre Antworten noch nicht vollständig ausformuliert. Ich kann erst mit meiner Variante anfangen, wenn sie mit ihrer fertig ist. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Zeit für mich knapp wird. Die Hälfte der für die Arbeit anberaumten Doppelstunde ist bereits vorbei. Ich muss eine Möglichkeit finden, schneller zu schreiben.
Muss ich überhaupt schreiben? Oder reicht es aus, mir konkret vorzustellen, was auf meinem Blatt stehen soll?
Testweise fixiere ich die Arbeit und fokussiere meinen Willen. Dann stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Die geschriebenen Zeilen werden nun von einem Herz geziert, in dessen Mitte Jans Name steht. Schnell entferne ich mein Werk wieder und überlege, was diese Erkenntnis für mich bedeutet. Ich kann die Gedanken direkt von meinem Kopf aufs Papier bringen. Das bedeutet Zeitersparnis ohnegleichen.
Entspannt warte ich weitere zehn Minuten, während ich zwischenzeitlich fleißiges Schreiben simuliere. Anschließend riskiere ich erneut einen Blick auf Denise' bisherige Ergebnisse. Sehr gut, sie hat Aufgabe 3 bereits erledigt. Nachdem ich ihre Interpretationsansätze sorgfältig studiert habe, ergänze ich sie in Gedanken um einige mir schlüssig erscheinende Aspekte – durch Aufgabe 2 weiß ich ja im Ansatz, worum es geht – und lasse dann Satz für Satz auf meiner Arbeit erscheinen, während ich den Stift über die Zeilen bewege, um die Täuschung aufrechtzuerhalten. Da Denise noch am Schreiben ist, schaue ich mir die Arbeiten von weiteren Mitschülern an, um ein wenig Inspiration zu bekommen. Spannend, welche Ideen sie haben. Irgendwann wird mir jedoch bewusst, dass es unfair ist, sie ihr Blatt in die Luft halten zu lassen. Immerhin verlieren sie dadurch kostbare Arbeitszeit. Als Denise schließlich den Stift hinlegt, um ihre Interpretation nochmals durchzulesen, nehme ich auch ihre Ergebnisse auf und formuliere anschließend eine Zusammenfassung aus allem auf meinem eigenen Blatt.
Kurz vor dem Klingeln bin ich fertig und gebe die Arbeit mit gemischten Gefühlen ab. Die gesamte Täuschungsaktion hat mich kaum Kraft gekostet. Der Lehrer sammelt alle Arbeiten ein und verlässt den Saal. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hat, steigt der Geräuschpegel schlagartig an. Die Klasse tauscht sich darüber aus, wie mutig es von diversen Mitschülern gewesen sei, ihr Blatt zu heben und so ein lustiges Spiel mit dem Lehrer zu vollführen, das dieser gar nicht registriert habe. Denise sitzt als gefeierte Heldin im ganzen Trubel und sieht überhaupt nicht glücklich aus.
***
Schließlich zahlten sich Ehrgeiz und Willensstärke aus. Als sie zum ersten Mal das Weinglas wenige Zentimeter über der Tischplatte schweben ließ, brach sie in laute Jubelrufe aus, während ich stumm beobachtete.
Sie würde zwar niemals meine Stärke erreichen, doch wir hatten den Beweis erbracht, dass es möglich ist, die Nutzung der Gabe zu erlernen.
20
Einträchtig
Nach der Schule gehe ich auf direktem Weg nach Hause und schlinge abwesend mein Mittagessen hinunter. Soll ich Jan anrufen? Es war einfacher, als ich ihn unverfänglich im Krankenhaus besuchen konnte. Noch während ich verschiedene Überlegungen hin- und herwälze, klingelt unser Telefon. Sicher will mich Viv wegen der misslungenen Englischarbeit trösten. Schlechtes Timing, schließlich bin ich im Begriff, mich zu einem Anruf bei Jan durchzuringen.
»Hey Viv, kann ich nachher zurückrufen? Ich wollte gerade –«
Die tiefe Stimme am anderen Ende bringt mich völlig aus dem Konzept. «Hannah? Hier ist Jan.«
»Oh. Hey... hey Jan!« Dem Himmel sei Dank, dass er mich mitten im Satz unterbrochen hat. Er hat angerufen! Er hat mich angerufen!
»Störe ich dich?«
»Neinnein. Kein Problem.«
»Sagtest du nicht, du
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