Formbar. Begabt
Nein. Definitionssache. Eigentlich ist »Klavier spielen« ein viel zu positives Wort für diese Quälerei. Momentan läuft die Stunde folgendermaßen ab. Ich erscheine unvorbereitet und schlurfe zum Flügel wie zum Schafott. Dort wartet meine Lehrerin, die ebenfalls ein Gesicht macht, das eher zu einer Exekution passen würde. Dann stellen wir beide fest, dass ich unbegabt bin, wobei sie das natürlich nie so ausdrücken würde. Ihre Mimik spricht allerdings eine deutliche Sprache. Nach einer dreiviertel Stunde verlasse ich völlig abgekämpft ihr Haus und höre förmlich, wie hinter mir vor Freude die Sektkorken knallen.«
Jan lacht und berichtet, dass er leider nie Instrumentalunterricht gehabt habe. Fraglich, ob er das auch bedauern würde, wenn er meine musikalische Karriere durchlaufen hätte. Immerhin besitzt er selbst beigebrachte Grundkenntnisse auf der Gitarre. Vermutlich spielt er diese besser als ich Klavier.
Unser angeregtes Gespräch wird eine gute halbe Stunde später von der Türklingel unterbrochen. Diesmal ist es tatsächlich Viv, die mich wegen der missglückten Englischarbeit trösten will. Schweren Herzens verabschiede ich mich von Jan und stelle das Telefon unter Vivs vielsagendem Augenrollen auf die Station.
»Hey, ich bin eigentlich hier, um dich zu trösten. Scheinbar ist mir jemand anderes zuvorgekommen. Gibt's trotzdem Kaffee?«
Lachend folgt sie mir in die Küche, und wir kommen auf die Idee, spontan einen Kuchen zu backen, den wir gegen Abend gemeinsam mit meiner Familie verspeisen.
Im Laufe der Woche telefoniere ich mehrere Stunden täglich mit Jan. Je mehr Facetten ich von ihm entdecke, desto lieber mag ich ihn. Nach der Schule kann ich es kaum erwarten, endlich seine Stimme zu hören. Durch die Telefonate erhalte ich die Gelegenheit, Vertrauen aufzubauen. Zum ersten Mal kann ich Jans Charakter kennenlernen, ohne durch die anziehende Wirkung abgelenkt zu werden, die seine körperliche Präsenz auf mich ausübt. In unseren langen Gesprächen wird mir bewusst, dass Jan ein aufmerksamer und einfühlsamer Gesprächspartner ist, der interessierte Rückfragen stellt und mit dem jedes scheinbar langweilige Thema zu einer spannenden Diskussion werden kann.
Je näher das Wochenende rückt, desto nervöser werde ich. Am Montag wird Jan wieder in die Schule kommen, und wir werden uns endlich gegenüberstehen.
Was hat sich zwischen uns verändert, seit ich ihn das letzte Mal im Krankenhaus besucht habe?
Wie wird es sein, wenn wir miteinander alleine sind?
Sind wir nun befreundet?
Kann ich ihm vertrauen?
***
Einige Zeit verbrachten wir Seite an Seite und unterwiesen neue Former, die wir an ihrer Aura erkannten und anschließend in unsere Dienste nahmen.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich bemerkte, dass ich die Faszination, die uns verband, auch bei den anderen Formern spüren konnte.
Von Anfang an hatte ich nichts für sie empfunden, denn die gegenseitige Anziehungskraft war auf unsere Gaben zurückzuführen.
21
Perfekt
Am Samstagmorgen erwache ich zufrieden und fühle die warmen Strahlen der Sonne auf meinem Gesicht. In zwei Tagen werde ich Jan endlich wiedersehen. Trotz unseres denkbar schlechten Startes hat sich alles wirklich positiv entwickelt. Allerdings wäre es mir wesentlich lieber gewesen, wenn wir uns ohne dieses unerfreuliche Vorspiel angenähert hätten.
Dieses Wochenende werde ich mir die Zeit nehmen, um Kraft zu sammeln. Die Clique plant heute einen Besuch im Einkaufszentrum, aber da war ich häufig genug in letzter Zeit. Zudem habe ich nicht das Geringste dagegen, zu Hause zu bleiben und nachzudenken.
Den Vormittag fülle ich mit einem ausgedehnten Schönheitsprogramm. Den Nachmittag verbringe ich in Abhängklamotten – Shorts und das T-Shirt einer peinlichen Boyband, mit dem ich mich niemals auf der Straße blicken lassen würde – in meinem Zimmer. Schon viel zu lange habe ich die Bücher vernachlässigt, die sich zum Teil in Stapeln auf dem Boden türmen und unbedingt gelesen werden wollen. Lang ausgestreckt auf meinem Bett liegend und völlig vertieft in einen Roman schrecke ich hoch, als es klopft. Meine Tür steht offen, sodass ich mit einem Blick die Situation erfasse. Jan steht lässig im Türrahmen und bedenkt mich mit einem entwaffnenden Lächeln. Schräg hinter ihm hat meine Mutter Position bezogen, die mir über seine Schulter hinweg wild gestikulierend begeisterte Zeichen macht. Wie kann sie mir das antun und ihn ohne Vorwarnung zu meinem Zimmer
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