Formbar. Begabt
weg.
***
Ich brauche keine Zuneigung, Liebe bedeutet mir nichts. Vielmehr sind es genau diese Gefühle, die den Menschen schwach und verletzlich machen.
Wahre Macht hat nur Bestand, wenn die Sinne nicht durch unnötige Empfindungen vernebelt werden. Jegliche Störung stellt eine Gefahr dar.
Überdies: Welches Lebewesen wäre es auch nur im Ansatz wert, meine Zuwendung zu empfangen, ohne dass ich daraus einen entsprechenden Nutzen ziehen könnte?
23
Selbstsüchtig
Am nächsten Morgen hält unser Englischlehrer eine Überraschung bereit. Er hat die Arbeit schon korrigiert und wird sie am Ende der Stunde zurückgeben. Diese Information nehme ich mit gemischten Gefühlen auf. Einerseits hoffe ich natürlich, eine gute Note erzielt zu haben, auf der anderen Seite weiß ich nicht, wie ich diese Viv erklären könnte. Garantiert erinnert sie sich, dass ich die Arbeit vergessen hatte. Viv missversteht meine Anspannung und tröstet mich mit Sätzen wie »Mach dir keine Sorgen. Wir können fragen, ob du ein Referat halten kannst, um deine Note zu verbessern.«, die ich mit einem abwesenden Nicken registriere. Kurz vor dem Klingeln beginnt der Lehrer mit der Rückgabe. An Denise' Tisch bleibt er stehen.
»Denise, eine hervorragende Leistung. Aber bitte lass dein Blatt beim nächsten Mal auf dem Tisch liegen, und halte es nicht in die Luft.«
Denise steigt das Blut in die Wangen, und sie senkt den Blick. Wenig später legt der Lehrer meine Arbeit vor mir auf den Tisch.
»Sehr gut gemacht, Hannah. Die Vokabeln fehlerfrei und deine Interpretationen sind außergewöhnlich. Scheinbar hast du doch deine Begeisterung für die Sprache entdeckt. Das freut mich.«
Ein rascher Blick auf die Note – eine glatte Eins, dann lasse ich die Arbeit so schnell wie möglich in meinem Rucksack verschwinden. Trotzdem zu spät. Von der Seite trifft mich ein eiskalter Blick. Viv scheint zu ahnen, wie diese Note zustande kam. Mist.
Glücklicherweise wird mir eine Gnadenfrist gewährt, denn sie kommt erst nach Unterrichtsende dazu, mich mit ihrer Erkenntnis zu konfrontieren. Während ich nervös am Gurt meines Rucksackes herumzupfe, steht sie mit verschränkten Armen und ernster Miene vor mir.
»Sagtest du nicht, du hättest total vergessen, dass wir diese Arbeit schreiben?«
Resigniert bejahe ich.
»Du hattest dich also in keinster Weise vorbereitet und auch die Lektüre nicht gelesen?«
Wieder stimme ich zu.
»Die nächste Frage erscheint mir überflüssig, aber ich muss sie trotzdem stellen. Hast du diese Gedankensache benutzt, um an eine gute Note zu kommen?«
Ich nicke kraftlos.
»Wie hast du es gemacht?«
Knapp setze ich sie ins Bilde und bereue schon wenige Sekunden später, dass ich die Situation nicht geringfügig modifiziert habe. Zumindest die Gedankenmanipulation hätte ich besser weggelassen.
»Kannst du dir vorstellen, wie blöd ich mir vorkomme, dich zu trösten, obwohl du davon ausgehen kannst, eine gute Note zu bekommen – übrigens eine bessere als ich. Aber immerhin habe ich meine Zwei aus eigener Kraft geschafft!«
Allmählich reißt mir der Geduldsfaden. Sie tut, als hätte ich eine Straftat begangen.
»Komm schon, Viv. Ich habe es auch aus eigener Kraft geschafft!«
»Du weißt genau, wie ich das gemeint habe!«, fällt sie mir ins Wort. »Ich saß das ganze Wochenende lernend zu Hause, während du wahrscheinlich zur gleichen Zeit bei Jan gehockt und wer weiß was getrieben hast! Das ist total unfair!«
»Was würde es dir bringen, wenn ich meine Jahresnote ruiniert hätte? Was hast du für einen Nachteil?« Ich mache eine kurze Pause. »Richtig. Gar keinen! Und auch sonst niemand. Also tu bitte nicht so, als sei es schrecklich, was ich gemacht habe. Als ob du anders reagiert hättest in dieser Notsituation.«
»Notsituation? Das ist für dich schon eine Notsituation? Was wirst du erst tun, wenn du wirklich mal in Schwierigkeiten gerätst? Ich sag dir was. Deine blöden Rechtfertigungen glaubst du vielleicht selbst, aber ich nehme sie dir nicht ab. Du weißt sehr genau, dass dies nicht in Ordnung war!«
Ich zucke mit den Schultern. Wenn sie meint...
Viv kommt einen Schritt auf mich zu und blitzt mich aus ihren blauen Augen böse an.
»Und dann diese Gedankenkontrolle! Bist du jetzt schon so abgehoben, dass du zu deinem eigenen Nutzen an den Gehirnen anderer Menschen drehst? Was glaubst du, wie sich Denise gefühlt haben muss, als sie plötzlich merkte, dass sie ihr Blatt in die Luft hält? Und als der
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