Formbar. Begabt
ich war so begeistert über meine Zwei. Eigentlich wollte ich mich bereits im Klassenraum erkundigen.«
Ich erwidere ihr Lächeln. »Eine Eins. Ich kann es kaum fassen. Das ganze Wochenende habe ich Lektürehilfen gewälzt und Vokabeln gelernt.«
Viv strahlt. »Ich freue mich echt für dich! Damit hast du eine gute Jahresnote in der Tasche. Tolle Sache!« Sie umarmt mich und zieht mich weiter. »Wirst du heute anfangen, für Laros Party zu backen? Wenn ich mich recht entsinne, hast du ihr nicht nur Muffins, sondern auch Kuchen zugesichert, du Wahnsinnige. Oder willst du das alles erst am Mittwoch erledigen?« Sie wartet keine Antwort ab, sondern plaudert munter weiter. »Wie geht es eigentlich Jan? Kommt er auch? Mein Vater fährt mich gegen 19 Uhr hin, sollen wir dich mitnehmen?«
»Gerne. Und ja, Jan wird auch da sein. Unser erster gemeinsamer Auftritt also.«
»Das wird spannend. So ein Treppensturz kann ganz schön heftig ausfallen.«
Wir unterhalten uns, bis sich unsere Wege trennen. Viv winkt mir noch einmal zu, dann verschwindet sie um die Ecke.
***
Letzten Endes hatte ich nur einen ernstzunehmenden Feind.
Die Zeit, die unerbittlich gegen mich arbeitete.
Die Aura, die den Former umgibt, schirmt ihn gleichzeitig vor der eigenen Gabe ab, sodass Selbstbeeinflussung nicht möglich ist.
Ich musste hilflos zusehen, wie mein Körper nach und nach Spuren des Alters zeigte.
24
Manipuliert
Eine knappe halbe Stunde später sitze ich vor einem Teller dampfender Nudeln und kann mich nicht entscheiden, ob ich lieber der Beseitigung des Magenknurrens oder Jans atemberaubenden Augen meine Aufmerksamkeit widmen soll. Er deutet mit seiner Gabel auf den Spaghettiberg vor mir.
»Willst du nicht essen, bevor sie kalt werden?«
Mühsam reiße ich mich von ihm los und beginne, die Nudeln um meine Gabel zu wickeln. »Warst du beim Friseur? Dein Haar wirkt kürzer.«
Jan zögert für einen Moment. »Ich hatte nach Schulschluss ein wenig Zeit«, entgegnet er, »und meine Haare hatten wieder genau diese blöde Länge, bei der sie in die Augen fallen.«
»Ich dachte schon, ich hätte es mir eingebildet.«
»Wie war dein Schultag? Meine Schonfrist ist ja leider vorbei...«
»Das klingt sehr dramatisch, wie du das sagt. So schlimm ist Unterricht nun auch nicht. Und du hast lange genug den Kranken gespielt.«
Jan blickt mich mit gespielter Entrüstung an, woraufhin ich in Gelächter ausbreche.
»Zum Thema Unterricht: Heute gab's die Englischarbeit zurück – eine glatte Eins.«
»Dann hat sich der Kummer, den du dafür ausgestanden hast, gelohnt.«
Bedrückt lasse ich die Gabel sinken. »Ich bin nicht sicher.«
»Was liegt dir auf dem Herzen?«
»Ich hatte einen ziemlich schlimmen Streit mit Viv. Natürlich hat sie mitbekommen, dass ich eine gute Note habe, obwohl ich nicht vorbereitet war.«
Jan lehnt sich vor, stützt die Ellbogen auf die Tischplatte und legt sein Kinn in die Hände.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie sagte, es sei unfair, die Gabe zu nutzen. Und dass ich die Gedanken manipuliert habe, hält sie für schlimmer, als ich jemals angenommen hätte.«
»Verständlich, dass sie so reagiert.«
»Findest du? Warst du nicht derjenige, der Verständnis für mich hatte? Oder hat sich das mittlerweile geändert, und du verurteilst mich auch?«
Beschwichtigend hebt Jan die Hände. »Nein. Natürlich nicht. Ich meine, dass ihre Reaktion verständlich ist, da sie sich erst wenig damit auseinandergesetzt hat, was die Gabe für dich bedeutet.«
»Wie meinst du das?«
»Ihr gesamter Kontakt zur Gabe kommt durch Dinge zustande, die du ihr gezeigt oder erzählt hast. Woher soll sie wissen, mit welchen Gedanken du dich vor dem Einschlafen herumschlägst, welche Entscheidungen du treffen, welchen Verlockungen du standhalten musst?«
»Trotzdem steckt in dem, was sie sagt, ein wahrer Kern. Mit jeder Nutzung der Gabe verschwinden mehr Skrupel.«
»Skrupel, die unnötig sind. Du setzt die Macht ja nicht ein um Böses zu tun. Im Gegenteil. Mit jeder Nutzung findest du etwas Neues über dich heraus. Das eröffnet dir eine Menge Möglichkeiten.«
Ich zögere.
»Hannah, du hast genau das Richtige getan und niemandem geschadet. Du darfst dich nicht an den Maßstäben normaler Menschen messen, denn keiner kann nachvollziehen, was sich in dir abspielt. Glaube an dich selbst.«
»Das war nicht alles. Der Streit zwischen uns ist eskaliert, doch dann«, sage ich und nehme einen tiefen Atemzug, »habe ich dafür gesorgt,
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