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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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hier kam. Ein bitterer Stich, der sie in die Realität zurückholt und ihre Perspektive zurechtrückt. Deacon dreht sich wieder weg und schaut zum Fernseher. Nach ein paar Minuten schließt er die Augen und schläft im Sitzen auf dem Sofa ein. Sadie wartet, bis er laut schnarcht, bis sie sicher ist, dass er tief schläft und sie ihn bestimmt nicht aufweckt. Dann holt sie das Papier aus der Hemdtasche, das Blatt, das sie aus dem Notizbuch gerissen hat, nachdem Chance schließlich aufgehört hat zu reden, aufgehört hat zu weinen und eingeschlafen ist.
    Sie legt sich das gefaltete, leicht zerdrückte Stück Papier aufs Knie, fährt glättend mit der Hand darüber und starrt das Ding an, das Chance’ Großmutter gezeichnet hat, als Sadie Jasper gerade einmal zwölf Jahre alt war, in die sechste Klasse ging und nachts noch immer Angst hatte, wenn die Zweige am Fenster kratzten, und vor den Monstern unterm Bett, die nur darauf warteten, dass die Lichter ausgingen. «Es gibt keine Monster, Liebling», hat ihre Mutter dann immer gesagt. «Und selbst wenn es sie gäbe, würde der liebe Gott nie zulassen, dass sie kleine Mädchen fressen.» Vielleicht glaubte ihre Mutter das sogar selbst. Ihre Mutter glaubte eine ganze Menge, tröstliche Dinge, die zum helllichten Tag gehörten, aber nun weiß Sadie es besser. Die ausgemergelte hechelnde Erscheinung draußen vor Quinlan Castle, die kein streunender Hund war und sie davon abgehalten hat, Dancy zu helfen, und dann dieses Blatt Papier – mehr Beweise braucht sie nicht.
    «Wenn ich meine Augen schließe», sagte Chance vorhin oben. «Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich es wieder. Ich kann überhaupt nichts dagegen machen, von jetzt an werde ich es immer sehen.» Sadie hat ihre Hand gehalten und sie beschwichtigt, obwohl sie selbst keines der eigenen Worte glaubte.
    «Bei dieser ganzen Sache geht es nur darum, was wir wissen», sagt Chance. «Sie wollen nicht, dass etwas über sie bekannt wird, Sadie.»
    Sadie starrt unverwandt die Figur auf dem Blatt an, während Deacon schnarcht und der Fernseher in zu vielen verschiedenen Stimmen mit sich selbst redet, um noch als normal durchzugehen. Später, als sie müde wird, faltet sie das Blatt wieder und steckt es zurück in ihre Tasche. Sie streckt sich auf dem Sofa aus, legt den Kopf in Deacons knochigen Schoß. Draußen wird es langsam hell, durch die Vorhänge sickert Licht in der gräulichen Farbe von Abwaschwasser herein, und Sadie versucht, sich vorzumachen, dass sich nichts verändert hat, dass alles so ist wie immer und immer so bleiben wird, bis sie einschläft.
     
     
    Als sie die Augen öffnet, ist er fort, und es ist sehr hell draußen, heller Vormittag. Sie weiß erst nicht, wo sie ist, nur dass Deacon eben noch hier war, und jetzt ist er verschwunden. Träume, an die sie sich nicht richtig erinnern kann, trübe, unterirdische Träume, aus denen Wasser tropft. Sadie schaut aus zusammengekniffenen Augen hinüber zur Uhr, bis sie endlich erkennen kann, dass es fast Mittag ist.
    Sie setzt sich auf. Chance’ Haus, fällt es ihr wieder ein, ich bin bei Chance und hätte eigentlich schon seit Stunden wach sein sollen. Noch kann sie den Gedanken an den Tunnel nicht ertragen, also konzentriert sie sich darauf, wie dringend sie pinkeln muss, dass sie durstig ist, pinkeln muss und rauchen will.
    Sie geht so leise, wie es mit den übergroßen, klobigen Stiefeln auf dem laut knarrenden alten Holzfußboden möglich ist, den Flur hinunter ins Bad. An der Treppe bleibt sie stehen und späht hinauf zu Chance’ Dachzimmer. Kein Anzeichen, dass die schon wach ist, Sadie hofft zumindest, dass sie noch schläft. Obwohl Chance kaum in der Verfassung sein dürfte, sie am Verlassen des Hauses zu hindern, aber darauf will Sadie es gar nicht erst ankommen lassen.
    Im Bad riecht es nach Seife, Putzmitteln mit Kiefernadelduft und noch etwas Exotischerem, Lavendel oder Rosen vielleicht. Sadie betätigt die Klospülung und beobachtet, wie das künstlich gefärbte Wasser abläuft. «Unser Trinkwasser läuft da schließlich durch», sagt sie laut. Die Worte sind ein Zitat aus dem Notizbuch. Es hat nicht mehr viel Sinn, alle Gedanken an den Tunnel zu vermeiden, wenn sie nicht mehr die Augen schließen und die Welt um sich versinken lassen kann.
    Sie betrachtet ihre Reflexion im Spiegel des Badezimmerschränkchens, das über dem Waschbecken hängt. Schlieren des verschmierten Eyeliners reichen herunter bis zu ihren Wangenknochen, an

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