Fossil
bitte. Sprich nur einmal mit mir über diese Nacht. Setz dich hin und sag mir, was deiner Meinung nach damals passiert ist.»
Aber Deacon setzt sich nicht, sondern studiert weiter Chance’ Bücherregal, diese schräge Mischung aus Kinderbüchern und Naturgeschichte, Die kleine Raupe Nimmersatt neben Stephen Jay Gould. Der Anblick der ordentlich aufgestellten Bände hilft ihm, nicht dorthin abzugleiten, wohin Chance sich nun aufgemacht hat, zu dem dunklen Schlund, vor dem er schon sein Leben lang fortläuft und in den ihn seine Visionen längst getrieben hätten, wenn er sich nicht dagegen gewehrt hätte.
«Ich habe Soda gebeten, mir sein Auto für ein, zwei Tage zu leihen, länger bleibe ich bestimmt nicht weg, versprochen.»
«Bitte», sagt sie, «wenn ich dir jemals auch nur das Geringste bedeutet habe.» Doch er schüttelt den Kopf, weil er zu mehr nicht in der Lage ist, ihr nicht sagen kann, dass ihm außer ihr eigentlich niemals irgendjemand wirklich etwas bedeutet hat.
«Ich fahre erst, wenn es hell wird, und komme bald wieder», sagt er, dreht sich um, löst den Blick von der Zuflucht der Bücherregale und entdeckt dann Sadie, die im Türrahmen steht und das Notizbuch in der Hand hat.
Ein paar unangenehme Minuten später ist Deacon die Treppe hinuntergegangen und hat Sadie und Chance allein in der Dachkammer zurückgelassen. Sadie steht jetzt in der Tür und starrt ihm nach, die dunklen Treppenstufen hinunter. Sie könnte ihn immer noch zurückrufen, denkt sie, wenn sie es wirklich versuchen würde, ihn möglicherweise sogar davon abhalten, nach Florida zu dieser Phantomjagd aufzubrechen. Aber sie tut es nicht. Sie weiß nicht genau, ob es wegen Chance ist oder weil er versuchen würde, sie selbst davon abzuhalten, zum Tunnel zu gehen und nach Dancy zu suchen.
«Es tut mir leid», sagt Chance und versucht, nicht mehr zu weinen. Sadie dreht sich um und schaut sie an.
«Warum? Was meinst du damit?»
«Es tut mir leid, dass ihr da mit hineingezogen wurdet. Ich weiß, dass sie nur zu euch gegangen ist, damit sie an mich herankommt.» Das reicht völlig. Sadie würde Chance nur zu gern sagen, dass sie den Arsch offen hat. Andererseits hätte sie mit derlei rechnen müssen… bei einer solchen Arroganz! Die ganze Welt dreht sich natürlich nur um Chance Matthews, das gesamte Universum, während Sadie nichts als ein dunkler unbedeutender Satellit ist, der unglücklicherweise in Chance’ Schwerkraftfeld geraten ist.
«Ist nicht deine Schuld», sagt Sadie. «Wirklich nicht, nichts von alledem ist deine Schuld.» Sie geht hinüber zum Bett und setzt sich auf den Stuhl daneben, der noch warm ist von Deke.
«Wenn ich das nur glauben könnte», sagt Chance. «Wenigstens kurz.» Sie wischt sich über die Augen. Sadie schaut sich nach Taschentüchern um, kann aber nirgendwo welche entdecken. Sie überlegt, ob sie nach unten gehen und Chance stattdessen Klopapier holen soll. Ein bisschen Aufwand, damit sie glaubwürdiger wirkt, aber Chance redet schon wieder.
«Ich habe ihm gesagt, er soll nicht fahren, aber er will nicht auf mich hören, Sadie. Möglicherweise hört er ja auf dich.»
«Möglicherweise, aber du kennst doch Deke. Hat der sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt, ist da nicht mehr viel zu machen.»
Chance lehnt sich gegen die Wand. «Ich bin so müde», flüstert sie und fängt wieder an zu weinen. «Ich bin so verdammt müde.»
«Du legst dich jetzt am besten hin und versuchst, etwas zu schlafen. Schließlich hast du heute ganz schön was mitgemacht.»
In diesem Moment fällt Chance auf, dass Sadie das Notizbuch in der Hand hat. Sie zeigt darauf.
«Ach ja, das hast du unten liegenlassen, und ich dachte, du hättest es vielleicht gern hier oben bei dir.» Sie legt es neben Chance aufs Bett. «Ich weiß, dass es dir viel bedeutet.»
Chance nimmt das Buch und schaut es finster an, ein Kaleidoskop der verschiedensten Emotionen spiegelt sich in ihren tränenfeuchten Augen. Wut, Bedauern und Verwirrung, etwas, das Sadie für Angst hält, dann legt Chance es wieder weg und wischt sich die laufende Nase an der rechten Handfläche ab.
«Ich… ich weiß nicht mehr, was mir noch wichtig ist. Eigentlich sollte ich das verdammte Ding aus dem Fenster werfen.»
Sadie macht den Mund auf, schließt ihn aber gleich darauf wieder. Erzähl mir, was die Dinge darin bedeuten, würde sie gern sagen. Erzähl mir, was mit diesem Tunnel nicht stimmt. Die Worte haben ihre Lippen schon fast überquert,
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