Fossil
falls du das möchtest. Aber ich kann nicht zulassen, dass sie da unten stirbt, solange noch eine Chance besteht, sie zu retten.»
«Wieso glaubst du, ich würde den Scheißkerl zurückhaben wollen?», fragt Chance. Ein dünnes Stimmchen, gedämpft von den Schmerzmitteln und dem Quilt, der Chance’ halben Mund bedeckt. «Denk mal ein bisschen nach.»
Sadie steht bereits auf, will Chance schon sagen, dass die sie am Arsch lecken kann und dass sie es dann eben allein macht, wenn es sein muss. Sadie hat ihr ganzes Leben lang die meisten Sachen allein hingekriegt, aber da bewegt Chance sich, streckt den Arm aus und berührt Sadies Hand mit den Fingerspitzen. «Warte», sagt sie.
«Warum? Du weißt doch nichts, schon vergessen? Ich verschwende nur meine Zeit, wenn ich mit dir rede.»
Aber Chance sieht sie nun aus beiden Augen an, und das zum ersten Mal halbwegs wach, seit Deacon sie aus dem Auto gezogen hat. Also setzt Sadie sich wieder hin.
«Sodas Auto ist Scheiße», sagt Sadie. Deacon zuckt die Schultern und starrt auf den Fernseher.
«Wer pleite ist, kann sich das nicht aussuchen.»
«Ich sehe schon vor mir, wie du irgendwo im Nirgendwo liegenbleibst.» Aber das war jetzt der letzte Anflug von Widerstand, den sie zu wagen bereit ist. Gerade so viel, dass es echt wirkt, wirklich nach ihr klingt, damit er sich nicht plötzlich wundert und anfängt, Fragen zu stellen. Sie schaut auf die kitschige Uhr aus den Fünfzigern oder Sechzigern, die an der gegenüberliegenden Wand hängt. Es ist schon fast vier Uhr morgens. Nervös spielt sie an den Taschen des Hemds, das Chance ihr geliehen hat, bevor sie wieder nach unten gegangen ist. Auf Sadies T-Shirt war ein großer angetrockneter Blutfleck von ihrer Schnittwunde am Fuß. Das Hemd hat einen Kragen und die Farbe von Zitronensorbet. Sadie findet, dass es ein typisches Hemd für alte Männer ist. Erst die klobigen Stiefel und jetzt dieses Hemd, es ist ein bisschen, wie von den Aliens aus Angriff der Körperfresser assimiliert zu werden, als würde sie mit jedem Stück mehr zu Chance werden.
«Solltest du nicht wenigstens ein bisschen schlafen?», fragt sie Deacon, und er nickt, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
Nach allem, was Chance ihr darüber erzählt hat, was passiert ist, als sie das Ding an die Tafel gemalt hat, was möglicherweise passiert ist, kann Sadie kaum noch still sitzen und abwarten. Es werden noch Stunden vergehen, bevor sie das Haus verlassen kann, bevor Deacon weg ist und niemand versuchen wird, sie aufzuhalten. Sie trommelt mit den Fingern auf der Armlehne des Sofas herum, ein ungeduldiges Tipp, Tipp, Tippel, Tipp. Als sie es selbst merkt, hört sie damit auf.
«Vielleicht sollte ich heute Morgen nach Hause gehen», sagt sie. «Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Ich habe nicht einmal die Tür zugemacht, als ich gestern Abend abgehauen bin.» Es ist einfach zu verdammt still im Haus, und sie muss einfach etwas sagen, ist viel zu angespannt, um einfach dazuhocken und Deacon beim Fernsehen zuzusehen, die schäbige alte Uhr beim Ticken zu beobachten und währenddessen jeden Gedanken an Dancy und den Tunnel zu vermeiden.
«Besser nicht, Süße, ich bitte Soda, mal nachzuschauen, außerdem hat Mrs. Schmidt bestimmt die Tür zugezogen, du kennst doch ihren Türentick. Mach dir also darüber keine Sorgen.»
«Aber mein Computer steht in der Wohnung, mein Buch ist da drin, Deke.»
Deacon dreht jetzt den Kopf und schaut sie an, das schwarzweiße Licht des Fernsehers lässt ihn älter aussehen, als er ist, seine Augen sehen so müde aus, das Kinn und die Wangen sind voller Stoppeln. Allerdings wirkt er trocken, und sie fragt sich, wann er zum letzten Mal etwas getrunken hat. Und auf einmal ist er wichtiger als Dancy, wichtiger, als mutig oder stark zu sein, wichtiger, als irgendetwas anderes jemals sein könnte. Allein der Gedanke, ihn zu verlieren, ist schon fast mehr, als sie ertragen kann.
«Ich brauche dich hier, damit du bei Chance bleibst», sagt er. «Für den Fall, dass sie Hilfe braucht. Außerdem ist es vielleicht sicherer hier. Ich bin so schnell wie möglich wieder da.»
«Schon klar», sagt sie, und es klingt tatsächlich einen Hauch beleidigt, wirklich glaubwürdig, was nicht schwierig ist, wenn sie darüber nachdenkt, dass Deacon sich wahrscheinlich sehr viel mehr Sorgen um Chance macht als um sie. Ihr ist schon aufgefallen, wie für den Fall dass sie Hilfe braucht, vor außerdem ist es vielleicht sicherer
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