Fossil
völlig anders, als du es dir vorstellen könntest…»
«Wie ist es denn dann, Dancy? Wie zum Teufel?»
«Es gibt noch immer Riesen unter der Erde», antwortet Dancy. Diesmal dreht Sadie sich um, es ist schwer, den Blick von der verschorften Scheibe abzuwenden, aber sie dreht sich trotzdem zur Stimme.
«Hör auf, in beschissenen Rätseln zu sprechen. Beantworte mir einfach nur die Frage.» Jetzt schreit sie fast, und es ist ihr egal, ob sie Chance oder sonst jemanden weckt.
Und sie ist immer noch allein in der Küche.
«Ich muss versuchen, dich zu finden», flüstert sie. «Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie mehr mit mir selbst aushalten.» Sadie wartet auf eine Antwort. Oder wenigstens auf etwas, das als Antwort durchgehen könnte. Sie sitzt bewegungslos auf dem Stuhl, bis die Zigarette vollkommen heruntergebrannt ist und ihr die Finger versengt. Sie flucht und lässt den Stummel auf den Boden fallen. Es ist nicht viel übrig von dem brennenden Filter, und sie tritt den Rest mit Chance’ Stiefel aus, leckt mit der Zungenspitze über die Blase am Finger und schließt ihre Augen, sucht nach dem, was sie bis hierher gebracht hat und sie auch noch den Rest des Weges bis zum Wasserwerkstunnel tragen muss.
Sadie findet alles, was sie braucht, in der Abstellkammer hinten in Chance’ Haus, in dem staubigen Raum, wo Dancy die Kiste entdeckt hat. Eine kleine Dose mit schwarzer Emailfarbe und einen Pinsel, der etwas nach Terpentin riecht, eine funktionierende Taschenlampe und eine Baumschere, oder etwas, das sie zumindest dafür hält. Das ist zwar nicht der mächtige Bolzenschneider, nach dem sie hier beim Werkzeug ursprünglich gesucht hat. An so ein Gerät erinnert sie sich noch aus der Highschool, als Hausmeister es zum Öffnen der Spinde benutzten, in denen Dope, Alkohol oder Diebesgut vermutet wurde. Nein, nichts derart Beeindruckendes, lediglich zwei Aluminiumgriffe an einem massiven Stahlschnabel wie die Kiefer eines Automatenpapageis. Die sollten völlig ausreichen, denkt sie.
Diese ganzen Sachen also und das zusammengefaltete Blatt nimmt Sadie mit, während sie auf dem von Wurzelwerk aufgerissenen Bürgersteig den Berg hinunter zum Park geht. Die Mittagssonne brennt herab aus einem Himmel, dessen blasses Blau zu ihren Augen passt. Sie trägt die Zange über der Schulter wie ein Gewehr, die Farbe, der Pinsel und die Taschenlampe befinden sich allesamt in einer braunen Papiertüte, die Sadie unter der Spüle gefunden hat. Der Weg ist nicht sonderlich weit, gerade einmal drei Blocks, bis die Vorgärten und Auffahrten enden. Dahinter spenden Amberbäume und Schwarzeichen Schatten, eine willkommene Zuflucht vor einem Hitzschlag und dem gleichgültigen Blick des fernen, wolkenlosen Himmels. Kein weiter Weg, aber immerhin weit genug, dass ihr verbundener Fuß wieder steif wird und im geliehenen Stiefel pocht.
Sadie überquert die Straße. Auf der anderen Seite befindet sich eine Art Treppe mit verwitterten Stufen aus Kiefernholz, die von der 16. zum Park hinunterfuhren, ein steiler, gewundener Pfad, der den Umweg über die 19. Straße abkürzt. Er endet an einem schäbigen kleinen Pavillon mit einem einzigen Picknicktisch. Der Park ist menschenleer, aber eine alte Taco-Bell-Tüte und leere Pepsidosen stehen noch auf dem Tisch. Jemand muss zu faul gewesen sein, sie in die grüne Mülltonne zu werfen, auf der in großen Lettern steht: BIRMINGHAM SOLL SAUBER BLEIBEN – ABFALL HIER HINEIN. Sadie legt die Zange und die Papiertüte auf den Tisch, setzt sich auf die Holzbank davor und dreht sich mit dem Gesicht zum Eingang des Wasserwerkstunnels. Das Blockhaus liegt nur 20 oder 30 Meter entfernt rechts, umgeben von Bäumen, am Ende eines Grabens im Berg. Eine Furche aus roter Erde und Kalksteinschutt, die genau zur Öffnung im Berg führt. Sadie kann die verrostete Kette erkennen, die um die Eisenstäbe geschlungen ist, das silbern glänzende Vorhängeschloss, das dafür sorgt, dass die Kette nicht herunterfällt und das Tor geschlossen bleibt.
Es ist hier im Pavillon nicht gerade kühler, und Sadie wischt sich mit der Handfläche den Schweiß von der Stirn.
«Wo bist du jetzt, Deke?», sagt sie laut, die ersten Worte, die sie spricht, seit vorhin in der Küche, seit Dancy mit ihr geredet hat. Sadie stellt sich Deke hinterm Steuer von Sodas hässlichem altem Chevy Nova vor, der aussieht, als hätte er irgendwann die falsche Ausfahrt genommen und wäre mitten in einem Crashrennen gelandet. Keine Klimaanlage,
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