Fossil
den Lidern hingegen ist kaum noch etwas davon zu sehen, der schwarze Lippenstift ist verschwunden. Und dann ihre kalten, eisblauen Augen, auf die sie immer so stolz gewesen ist, dieser eine Teil von ihr, den sie nicht erst seltsam machen musste, weil er es schon immer war. Falls die Augen wirklich das Fenster zur Seele sind, hätten ihre kaum passender sein können. Wie Dancy Flammarion ihre kaninchenroten Pupillen, so haben Sadie ihre hellblauen, fast ins Weiße übergehenden Augen zu etwas Besonderem gemacht. Ich bin nicht wie all die anderen. Seht her, in meinem Innersten bin ich ganz anders als ihr. Sadie wäscht sich die Hände, und weil sie sich wieder an den Satz aus dem Notizbuch erinnert, trocknet sie sie an einem Handtuch ab.
Auf dem Weg vom Badezimmer zur Küche fällt ihr ein, dass sie nachsehen sollte, ob sich der Zettel noch in ihrer Hemdtasche befindet, nur um sicherzugehen. Ja, die herausgerissene, gefaltete Seite aus dem Notizbuch ist noch da, falls sie sie braucht. Die Seite, die sie geklaut hat, damit sie die Figur ganz genau hinbekommt, und jetzt weiß sie nicht, ob sie sie jemals wieder aus dem Kopf kriegt. Selbst in hundert Jahren würde sie sich noch daran erinnern. Aber Vorsorge ist eben besser als Nachsicht, wie Deacon sagen würde. Zu viel ist besser als zu wenig, und zwar immer.
Auf der Arbeitsfläche in der Küche entdeckt Sadie eine beinahe leere Schachtel Marlboro. Sie kann sich nicht erinnern, sie da hingelegt zu haben, vielleicht war es also Deacon. Es sind noch zwei Zigaretten in der Schachtel, sie zündet eine davon am Herd an, setzt sich und nimmt einen tiefen Zug. Das Nikotin breitet sich in ihren Lungen aus, dringt in ihre Blutbahn ein und weckt sie richtig auf, während sie zuschaut, wie der Rauch langsam zur Decke schwebt. Eine Tasse Kaffee wäre gut, starker schwarzer Kaffee mit viel Zucker, aber sie weiß nicht, wie Chance’ altmodischer Perkolator funktioniert, also muss die Marlboro gerade reichen.
«Was machst du da, Sadie?», fragt Dancy. Ihre Stimme ist so klar zu hören wie das Krächzen des Blauhähers irgendwo im Garten hinter dem Haus, sogar noch deutlicher, weil Dancys Stimme genau hinter Sadie ist. Sie dreht sich rasch um, aber nur der Ofen, der Kühlschrank und ihr eigener Zigarettenrauch sind zu sehen.
«Dancy?», flüstert sie. «Warst du das?» Sadies Herz rast, als wäre sie eben einen Marathon gelaufen, ihre Hände werden feucht, und auch auf ihrer Oberlippe sammelt sich Schweiß, und ihr ist auf einmal übel, ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Sie wartet einen Moment, dann fragt sie noch einmal nach Dancy, leise, so leise, wie ihre zitternde adrenalingeschwängerte Stimme es zulässt, weil Chance sonst vielleicht aufwacht.
«Kannst du mich hören?»
Doch es kommt keine Antwort. Nichts als der Straßenlärm und der Vogel, das mechanische Brummen des Kühlschranks, das etwas entferntere Geräusch der Uhr im Wohnzimmer, die den Tag abtickt. Sadie dreht sich wieder um, zieht an der Zigarette und starrt über den Tisch hinweg aus dem Küchenfenster. Der kastanienbraune Fleck auf der Scheibe erinnert sie an die Krähe vom Samstagmorgen. Sie und Chance und Dancy, die frühstückten, während Deacon sich noch im Bad übergab, und dann knallte die Krähe gegen das Fenster. Hat ihr verdammtes Gehirn auf dem Glas verteilt und Sadie dabei so erschreckt, dass die wirklich aufgeschrien hat. Wahrscheinlich hat sie da zum ersten Mal in ihrem Leben geschrien, und dann war es wegen eines durchgedrehten Vogels. Sie atmet aus, und Rauch strömt langsam aus ihren Nasenlöchern. Das ist nicht nur Blut auf der Scheibe, auch ein paar schwarze Federn kleben daran und etwas Weißes. Es dauert etwas, bis sie erkennt, dass es ein Klecks Vogelscheiße ist.
«Sieh nicht hin», sagt Dancy, und diesmal dreht Sadie sich nicht um, sondern starrt weiter aufs Fenster, tut, als würde sie das Prickeln im Nacken nicht spüren.
«Was soll ich nicht ansehen, Dancy?», fragt sie.
«Es ist überhaupt nicht so, wie du vermutest.» Sadie bemerkt einen kehligen Hall in Dancys Stimme, die immer noch vollkommen deutlich hinter ihr ist. Es klingt, als säße Dancy unten in einem Brunnen. Oder wie jemand, der durch ein Rohr spricht, denkt Sadie, ein Wasserrohr. Und wieder fällt ihr der Satz auf dem Blatt Papier ein, das in ihrer Hemdtasche versteckt ist.
«Unser Trinkwasser läuft da schließlich durch», sagt Dancy. «Ganz egal, wie du es dir vorstellst, Sadie, es ist völlig anders. Es ist
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