Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
Vom Netzwerk:
Lippen, und ein paar kostbare Tropfen schwappen heraus auf seine Hand. Der Bourbon riecht fast nach Trost, nach Gnade. «Woher weißt du, dass sie tot ist?», fragt er.
    «Sie hat es mir gesagt», antwortet Chance, sagt es im selben Ton, in dem man übers Wetter spricht oder die Uhrzeit. Deacon nimmt einen Schluck aus der Flasche, einen langen, brennenden Zug, einen sengenden Zug, aber nichts brennt tief genug, nichts könnte den Knoten in seiner Seele ausbrennen. Er dreht den Verschluss wieder zu und beobachtet dann durch das Fenster, wie die Southside am Auto vorbeifliegt.
    «Das kann ich dir nicht glauben», sagt er sehr ruhig.
    «Es tut mir leid.» Sie biegt links ab. Die Reifen kreischen wie Vögel, und Chance fährt über eine rote Ampel.
    «Wir müssen in meine Wohnung», sagt Deacon und schraubt den Whiskeyverschluss wieder ab. «Vielleicht wartet sie dort auf mich.»
    «Sie ist tot, Deacon. Genau wie Dancy. Genau wie Elise.»
    «Nein», sagt er, der heimliche Zorn in ihm kommt nun dicht genug an die Oberfläche, dass man ihn erkennen kann. Er hört ihn selbst in seiner Stimme, und Chance fährt etwas langsamer.
    «Dafür haben wir keine Zeit mehr», sagt sie. «Vielleicht ist es sowieso schon zu spät.»
    «Wofür zu spät, Chance? Es ist vorbei. Du hast den Dreckskerl abgeknallt.» Deacon zeigt nach hinten zum Rücksitz, wo die Winchester liegt. «Du hast ihn erledigt und die anderen auch. Sie liegen allesamt tot bei dir im Haus. Dreh also verdammt nochmal um und fahr mich zu meiner Wohnung. Sofort. »
    Chance schüttelt den Kopf. «Es ist nicht vorbei», sagt sie. «Wir sind noch am Leben, also kann es das gar nicht sein. Das wäre es erst, wenn niemand mehr lebt, der weiß, was wir in der Kiste gefunden haben oder was im Notizbuch steht und…»
    «Chance, ich sage es nicht noch einmal.»
    «‹Unsere Gedanken ziehen Kreise in der Welt.› Das hat sie gesagt, aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll.»
    «Chance, du klingst wie ein Psycho, wie eine gestörte Irre, ist dir das eigentlich klar? Als hättest du deinen beschissenen Verstand verloren.» Und da lächelt sie, so wie Wahnsinnige manchmal in Filmen lächeln. Ein geheimes, gewisses Lächeln, das ihm fast so viel Angst macht wie der Anhalter und die Hundemonster.
    «Sadie hat schon gesagt, dass du mir nicht glauben wirst. Sie meinte, ich soll dich nach den Jods fragen und danach, wie Dancy dir im Wald begegnet ist. Möglicherweise würdest du mir dann glauben.»
    «Die Jods», flüstert er, ein erschöpftes Flüstern, ein Nicht-mehr-weiter-Flüstern, und Deacon packt den Türgriff, die große Jim-Beam-Flasche rutscht zwischen seinen Beinen durch auf den Wagenboden, und der Whiskey läuft ihm über die Schuhe. Er öffnet die Autotür und starrt auf Asphalt und Zement, die unten vorbeirasen, so rau und mitleidlos wie die Zeit, wie jeder Moment seines Lebens. Er lehnt sich hinaus. Dieses Straßenstück ist so gut wie jeder andere Ort, um es hinter sich zu bringen. Es reicht einfach, er läuft schon so viele Jahre nur noch auf Reserve, nur noch mit dem allerletzten Rest Kraft, und nur dank Whiskey und Bier kann er das Leben überhaupt ertragen.
    Die Frage ist nur, was Sie an Ihrem Ende erwartet. Was wird noch da sein, wenn Sie nach Hause zurückkehren ?
    Doch jemand zieht ihn zurück, Chance flucht, und sie ist es, die ihn an den Haaren zurück ins Auto zieht, nur eine Hand am Steuer, und der Chevy fährt plötzlich auf einen Telefonmast zu. «O nein, das machst du noch nicht», sagt sie. «Ich schaffe das nicht alleine.» Einen Augenblick später rammt die Wagentür den mit Teeröl behandelten Kiefernstamm, knallt zu, das Fenster darin zerbirst, und sein Glas verwandelt sich in kristallklaren Regen.
    «Nicht alle beide», sagt Chance und fährt an den Straßenrand. Die Bremsen quietschen, als der Chevy plötzlich zum Stehen kommt. «Auf keinen Fall bekommt es dich und Elise, außer es holt mich auch.»
    Deacon starrt auf das Glas in seinem Schoß, die eingedrückte Tür, die sich bestimmt nie wieder öffnen lässt, jedenfalls nicht ohne Brechstange, und dann beugt er sich vor und greift nach der Whiskeyflasche. Da sind noch ein paar große Schlucke drin, drei oder vier, wenn er Glück hat, und er wischt den Flaschenhals mit der Hand ab.
    «Bring mich nur erst nach Hause, Chance», sagt er, und all seine Wut ist verflogen, aus seiner Stimme klingt nur Resignation und vielleicht ein Hauch von Traurigkeit. «Bitte, das ist auch wirklich alles. Ich muss

Weitere Kostenlose Bücher