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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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mehr übrig ist, der über sie Bescheid weiß.»
    «Ich glaube dir nicht», sagt Chance, weiß gleichzeitig, dass das eine Lüge ist, aber im Augenblick findet sie diese Lüge erträglicher als deren Alternative, also sagt sie es noch einmal. «Ich glaube nicht, dass du Sadie bist.»
    Sadie schaut zur Decke empor und lächelt, wobei ihr noch mehr Blut aus dem Mund läuft, dann hebt sie den Arm in einer Geste religiöser Verehrung für den hinter Farbe, Putz und Dachpfannen verborgenen Himmel, ihre geisterblauen Augen sehen aus, als hätten sie seit tausend Jahren darauf gewartet, der Sonne auch nur so nahe zu kommen.
    «Zwing mich nicht dazu, Sadie», sagt Chance, und sie weint, heiße Tränen laufen ihr übers Gesicht, Salz brennt ihr in den Augen, und sie legt den Finger um den Abzug. «Geh zurück, sag ihnen, sie sollen mich nicht so weit bringen, dir das anzutun.»
    Sadie schließt die Augen, der Kopf fällt ihr auf die Seite, aber das Gesicht hat sie immer noch der unsichtbaren Morgensonne entgegengedreht. Als sie dann spricht, sind ihre Worte die einstudierte Rede eines anderen, der ein Gedicht oder einen Schwur zitiert, etwas auswendig Gelerntes und Bemühtes, jedes einzelne Wort.
    «Wo Großes nie vergeht… wenn auch vollkommen unterschiedlich… wo wichtige und schreckliche Persönlichkeiten entlanghasten, in Gedanken ganz bei großen Zielen… großen Zielen, Chance.»
    Chance steht vom Boden auf, den Rücken zur Wand. Die plötzlich in ihr aufsteigende Wut gibt ihr Kraft, trotz aller Erschöpfung und Furcht und des Schmerzes in der Schulter.
    «Habt ihr wirklich solche Angst vor mir?», schreit sie durch die verbarrikadierte Tür, schreit durch ihren Tränenschleier, und auf der Treppe beginnt etwas zu murmeln, ob nun für sich oder zu jemand anderem. «Ihr beschissenen Mistkerle, ihr feigen Drecksstücke. Ihr habt Angst, so ist es doch. Ihr habt solche Angst, dabei draufzugehen, dass ihr es lieber gar nicht erst versucht. »
    Sadie öffnet die Augen, hebt den Kopf und beobachtet Chance. Jemand, der zusieht, wie ihm die Welt entgleitet, dann senkt sie langsam die Arme.
    «Du bist tot, Sadie», flüstert Chance, so wie man auf einen Betrunkenen einredet, der noch Auto fahren will, ein müdes Kind, das sich weigert, ins Bett zu gehen. Und Sadie lächelt wieder, lächelt und zeigt Zähne, aber nicht die eigenen; krumme, nadelspitze Zähne wie von einem blinden Tiefseefisch, in mehreren Reihen, alle blutbesudelt, und die Gaumen schwarz wie Kohle.
    «Die Abtrennung ist hier so dünn», sagt sie und schlingt die Arme um ihren Oberkörper, als ob sie friert, und jedes Wort klingt weit entfernt, als käme es von einer der weißen Polarregionen. «So dünn, dass irgendwie etwas durchsickert. Ihre Laute… Das Summen ihrer Heimat… Es steckt in den Weiden. Die Weiden selbst sind es, die summen, weil die Weiden hier zu Symbolen jener Kräfte gemacht wurden, die uns feindlich gesinnt sind.»
    Chance hebt das Gewehr und zielt auf Sadies Gesicht, das tote Mädchen erwidert den Blick fest.
    «Nein, keine Weide, ich meinte die Trilobiten, die deine Großmutter gefunden hat, und das Ding in der Flasche…»
    «Lieber Himmel, Sadie», sagt Chance. «Ich habe jetzt wirklich genug davon, das schwöre ich dir, verdammt.» Sie macht einen Schritt auf Sadie zu, weil sie weiß, dass sie nie wieder dazu kommen wird, noch einmal zu schießen, wenn sie nicht beim ersten Mal trifft.
    «Du hörst mir nicht zu, Chance. Weißt du eigentlich, wie scheiße weh das hier tut, und du hörst nicht mal zu.» Inzwischen hat Sadie sich verändert, Sadie oder diese Erscheinung, die Chance bloß glauben machen will, sie sei Sadie, falls das überhaupt eine Rolle spielt. Die blauen Augen leuchtend und wild, und das Ding bewegt sich so schnell, dass Chance keine Zeit bleibt, um abzudrücken, es scheint über den Schlafzimmerfußboden zu gleiten wie Butter in einer heißen Pfanne, ja sogar tausendmal schneller und weicher: eine Bewegung ohne jede Anstrengung, ohne die Hürden von Zeit und Raum überwinden zu müssen. Sadie wächst, es ist nicht mehr Substanz von ihr da, sie ist lediglich irgendwie in die Länge gezogen worden, dann ergreift sie das Gewehr mit den Zweigfingern ihrer linken Hand, packt Chance’ Kinn schmerzhaft fest mit der rechten.
    «Ich darf dir gar nichts sagen, Schlampe», sagt Sadie, zischt die Worte wütend durch all die spitzen krummen Zähne. «Aber du wirst es schon herausfinden, auf der anderen Seite.»
    Von draußen

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