Fossil
nur sehen, ob sie nicht da ist, danach machen wir, was immer du willst.»
«Okay», sagt Chance, es klingt skeptisch, atemlos. Die Finger ihrer rechten Hand haben ihn noch immer beim Haar gepackt, ihre grünen Augen sehen ihn unverwandt an. «Wenn das der Preis dafür ist.» Nachdem ein riesiger kürbisgelber Schulbus an ihnen vorbeigerumpelt ist, wendet sie den Wagen und fährt Richtung Quinlan Castle, der Morgensonne im Osten entgegen.
Es ist das erste Mal, dass Chance das Castle betritt seit der Trennung, drei Monate also oder noch länger, aber nichts hat sich hier verändert seitdem. Dieselben schmuddeligen Flure, derselbe widerliche Gestank nach Schimmel und Frittiertem, und sie folgt Deacon nach oben, zur roten Tür seiner Wohnung.
Er klopft erst an, und sie warten, dann klopft er noch einmal, aber niemand öffnet. Er greift nach dem Türknauf, dreht das antike Messing, das im selben hässlichen Rot gestrichen ist wie der Rest der Tür, aber es ist abgeschlossen. «Hast du überhaupt deine Schlüssel? Oder hatte Sadie die?», fragt Chance ungeduldig, während er in seinen Hosentaschen kramt. Er hat die Schlüssel, den einen Schlüssel, der die Tür öffnet.
«Sadie meinte, dass sie die Tür offen gelassen hat, als sie Samstagnacht hier abgehauen ist», sagt er. «Nicht einmal geschlossen hatte sie sie.» Er dreht den Schlüssel im Schloss um.
«Vielleicht war das der Vermieter…», fängt Chance an, unterbricht sich aber, weiß, was Deacon so gern glauben möchte, worauf er hofft, dass Sadie wirklich hier war, dass sie diejenige ist, die die Tür abgeschlossen hat, und dass Chance entweder lügt oder durchgedreht ist oder beides. Dass sie Unsinn redet, ganz egal weshalb. Dann schwingt die Tür auf, die rostigen Scharniere quietschen, sehr laut klingt das, weil das einzig andere Geräusch hier auf dem Flur ein Fernseher aus der Wohnung direkt gegenüber ist. Chance erinnert sich noch an die alte Frau, die dort wohnt, die senile alte Frau und ihren schmierig aussehenden Hund.
Deacon bleibt einen Moment bei der Tür stehen und späht in die lichtdurchflutete Wohnung. «Sadie? Bist du da, Süße?» Als darauf keine Antwort kommt, übertritt er die Schwelle und blickt über die Schulter zu Chance.
«Ich musste nachschauen», sagt er. «Ich musste mir ganz sicher sein.»
«Das verstehe ich.» Das tut sie wirklich und senkt den Blick, damit sie die Leere in seinen Augen nicht sehen muss, die bald dem Schmerz weichen wird.
«Okay, komm», sagt er. «Gehen wir rein und schauen nach, ob es etwas zu sehen gibt.» Er zieht den Revolver aus seinen Jeans, die kurze Waffe mit den drei Patronen, die er unten vor der Treppe wieder aufgesammelt hat. «Wo wir schon einmal hier sind.»
Aber es gibt nicht besonders viel zu sehen. Nur Deacons schäbige Wohnung, seine Taschenbücher und Sadies Klamotten, dann Poster von Goth- und Black-Metal-Bands, die früher nicht hier hingen. Die müssen also auch Sadie gehören. Zweimal gehen sie durch die ganze Wohnung, und beim zweiten Mal entdeckt Chance im Schlafzimmer den plumpen, grauen Macintosh, der neben dem Bett auf dem Fußboden steht. Der ist noch älter als der gestiftete LC II im Paläo-Labor. Es sieht aus, als hätte jemand den Bildschirm mit einem Hammer oder der Stiefelspitze eingeschlagen.
«War der schon kaputt?», fragt sie Deacon und zeigt auf den Mac. Deacon schüttelt den Kopf, schiebt den Revolver zurück in seine Jeans, geht an ihr vorbei, hockt sich neben den Computer und hebt etwas vom Teppich auf: ein zusammengedrücktes Stück blaues Plastik. Chance braucht einen Moment, bis sie erkennt, dass es sich dabei um die Überreste einer Diskette handelt.
«Das war ihr Roman», sagt er und lacht heftig, ein freudloses Lachen, dann legt er die kaputte Diskette auf den Computer. «Sie hat versucht, einen Roman zu schreiben, ich habe sie dazu gebracht, alles zur Sicherheit auf Diskette zu speichern.» Deacon setzt sich auf den Fußboden, lehnt sich gegen das Bett und starrt an die Decke.
«Ich durfte es nie lesen.»
«So war Sadie», sagt Chance und wünscht sofort, sie hätte es nicht getan, genau genommen ist sie überhaupt nicht in der Position für irgendwelche Kommentare. Doch Deacon nickt und schaut sie an.
«Ja, so war sie wohl», sagt er.
«Sie dachte immer, ich würde sie hassen, stimmt’s?»
Er starrt wieder an die Decke, als wäre dort oben etwas, das Chance nicht sehen kann. «Sadie hat dich für das personifizierte Böse gehalten», sagt
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