Fossil
Ahnung, was sich diese Leute, diese Ärzte, so zusammenreimen, und manchmal ist es besser, wenn wir das, was wir denken, für uns behalten. Ihnen von dem Hund zu erzählen macht die Sache nicht mehr ungeschehen. Es kann nichts mehr daran ändern, die Jungen werden ihn immer noch getötet haben. Vielleicht glaubt man am Ende noch, du hättest etwas damit zu tun gehabt.»
Seine Mutter weinte wieder, legte die Bettdecke zurück auf seinen geschwollenen Knöchel und ging hinaus, ließ ihn allein mit seinem Vater. Deacon wusste, dass er gleich anfangen würde zu weinen, zu weinen wie seine Mutter, wie ein Mädchen, und er wollte nicht, dass sein Vater das sah. Er wollte zurück an jenen schwarzen Ort, der eigentlich gar kein Ort war, dahin, wo nichts wehtat und er nicht darüber nachdenken musste, wie jemand einen Welpen mit einem Hammer totschlagen konnte oder weshalb sein Vater ihm riet zu behaupten, er hätte sich den Kopf angeschlagen, oder warum die Ärzte denken sollten, er wäre verrückt.
«Der Welpe ist dann immer noch tot, Deke», sagte sein Vater. «Ich will lediglich, dass du das begreifst. Du kannst daran nichts ändern. Denk daran.» Deacon rollte sich auf die Seite, presste das Gesicht tief ins Kissen, um seine Tränen zu verstecken, das Schluchzen, das er nicht unterdrücken konnte. Nach ein paar Minuten ging sein Vater hinaus zu seiner Mutter auf den Flur und ließ ihn ganz allein in dem weißen Zimmer.
Noch eine Woche im Krankenhaus, erst kurz bevor die Schule wieder anfing, wurde er endlich entlassen. Davor eine Woche voll verwirrten Stirnrunzelns von Männern und Frauen in weißen Arztkitteln und weiterhin keinerlei Erklärung für seinen «Anfall», ganz gleich, wie viel Blut sie ihm abnahmen oder wie viele Aufnahmen sie vom Innern seines Kopfs machten. Deacon erwähnte den Beagle mit keinem Wort.
Aber in der ersten Woche nach Schulanfang radelte er an der Highschool vorbei, am Footballstadion, vorbei an den älteren Kindern auf der Orchesterprobe, bis hinaus zur Wiese. Hohes Gras und pollengelbe Goldrutenstängel, wilde Möhren und ein paar verstreute Eichen, gerade weit genug entfernt, dass er sie von der Straße aus lediglich undeutlich erkennen konnte. Nur noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang, dennoch versteckte Deacon sein Fahrrad im Gras und ging auf die Bäume zu, bahnte sich langsam seinen Weg über die dichtbewachsene Wiese und hielt dabei Ausschau nach Mokassin- und Klapperschlangen. Endlich stand er im langen, unbehaglichen Schatten der Stämme, und der Welpe war genau da, wo er ihn erwartet hatte, zumindest das, was nach einem Monat Sommersonne und Regen noch von ihm übrig war. Krähen und Maden hatten sich an dem Körper zu schaffen gemacht. Deacon zog den Nagel im Schädel mit einer Zange heraus und begrub den Körper dann an einer sandigen, unbewachsenen Stelle unter den Bäumen. Keine Tränen diesmal, nur ein Gefühl von Übelkeit und Endgültigkeit, weil er das niemals jemandem erzählen konnte, er konnte nicht einmal Davey sagen, was mit seinem Hund war. Und niemand wusste, wann das wieder mit ihm geschehen würde oder was er alles besser nicht berühren sollte.
Hinter der Wiese, einen Kilometer und fünf Jahre entfernt, hinter einem Maschendrahtzaun, der die sichere Welt der Teenager einfriedete, hockte die Illusion von einer Welt ohne Gefahren am rutschigen Rand des Erwachsenwerdens, und der Spielmannszug stimmte Aura Lee an, Trompeten und Klarinetten, Flöten und Trommelwirbel. Deacon Silvey folgte der Musik dorthin, von wo er gekommen war.
Deacon sitzt allein draußen vor dem PLAZA auf einer bonbonblauen Milchkiste, malt mit einem Stock Kreise in den Sand und Kreise in die Kreise. Sadie hat die Bar schon vor einer Weile verlassen, die Tür schlug hinter ihr zu, und sie ging hinüber zum Five Points, ohne ihn auch nur anzusehen. Sie marschierte in ihrem schnellen, entschlossenen Gang, die Augen fest auf die Straße gerichtet, starr nach vorn, dabei hätte sie ihn wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, wenn er versucht hätte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Die wütende Sadie, lauschig eingehüllt von ihrem schwarzen Kokon aus schlechter Laune, bis sie bereit sein würde, da wieder herauszukommen. Deacon zieht noch einen Kreis, den siebten von außen gezählt. Diese Übung hat er sich vor langer Zeit selbst ausgedacht, so sperrt er den Zorn in immer kleinere und kleinere Kreise ein, konzentrische Beschränkung, verbannt die Wut dahin, wo sie niemanden verletzen
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