Fossil
schon seit fünf Minuten hier raus sein sollen. Sadie betrachtet mit finsterer Miene das eigene Bild im Spiegel hinterm Tresen, späht angestrengt mit zusammengekniffenen Augen auf die aneinandergereihten Flaschen dort, volle Konzentration, als würde sie jemals etwas anderes bestellen, und sagt schließlich: «Einen White Russian, bitte.» Deacon würde zehn Dollar darauf verwetten, dass sie noch nie im Leben etwas anderes getrunken hat, dass irgendwann, irgendwo ein White Russian Sadies erster Alkohol gewesen ist und sie es für vollkommen sinnlos hält, jemals etwas anderes zu probieren.
Sadie öffnet ihre sargförmige Handtasche, holt einen zerknüllten Fünfer heraus und legt ihn auf den Tresen, während Sheryl Wodka zu den Eiswürfeln und der halbfetten Milch hinzufügt. «Und gib dem Dummgesicht hier neben mir noch ein Glas von dieser Kuhpisse», sagt sie und grinst die Barkeeperin an.
«Teufel, heute muss wohl mein verdammter Geburtstag sein», sagt Deke. «Zwei Bier für lau an einem einzigen Nachmittag.» Er trinkt sein Bier aus, stellt das Glas wieder hin, versetzt ihm einen Stoß und lässt es über den Tresen zu Sheryl schlittern, während die Sadies White Russian auf einer Cocktailserviette platziert.
«Nein, nein, nur wieder Geld von meinen Eltern, gegen ihre Schuldgefühle», sagt Sadie und holt ein mintgrünes Stück Papier aus ihrer Handtasche, einen Scheck, auf dem oben der Name ihres Vaters fein säuberlich in Blockbuchstaben notiert ist und auf dem genügend Nullen stehen, dass sie sich zumindest im nächsten Monat keine Sorgen darüber machen müssen, wie sie die Miete bezahlen sollen. «Solange Mamas neuer Therapeut ihr weiter erzählt, dass es wirklich allein ihre Schuld ist, dass ich so geworden bin, dürfen wir wohl mit regelmäßigen weiteren Kleineinnahmen rechnen, denke ich.» Sadie nimmt einen Schluck von ihrem Drink, bevor sie den Scheck wieder in ihrer Tasche in Sicherheit bringt und den Sarg dann zuschnappen lässt.
«Wie beruhigend, dass wenigstens einer von uns beiden nicht mit einem Gewissen belastet ist», sagt Deacon, und Sadie boxt ihm auf den Arm, nicht besonders hart, aber er stöhnt, als ob sie ihm einen Knochen gebrochen hätte, stöhnt, bis sie sich zu ihm beugt und die Schulter küsst.
«Gott, ihr beiden macht mich krank», murmelt Sheryl. «Wisst ihr, wie lange es her ist, dass ich auch nur ein Date hatte?» Sadie streckt der Barkeeperin die Zunge heraus, eine Zunge in der Farbe von milchbeflecktem Kaugummi, und wendet sich dann wieder Deacon zu.
«Ich habe heute in der Post deine Freundin Chance gesehen», sagt sie.
Deacon nimmt einen Schluck von seinem frischen Bier. «Wie hält sie sich?»
Sadie zuckt die Schultern und rührt mit einem roten Plastikstäbchen um. «Keine Ahnung. Sie hat Briefmarken gekauft. Du weißt ja, dass sie nicht gern mit mir redet.»
«Ich fürchte fast, dass Chance in letzter Zeit mit niemandem gern redet, Schatz. Das würde ich nicht persönlich nehmen.»
«Wahrscheinlich liegt es eher daran, dass sie denkt, dein seltsamer Charakter würde auf mich abfärben.» Sadie legt das Stäbchen auf ihre Serviette, starrt Deke aus diesen künstlich wirkenden blauen Augen an, die an ein Ausstellungsobjekt im Schaufenster eines Tierpräparators erinnern, Augen wie aus Glas. «Sie ist eine ausgesprochen reservierte junge Dame.»
«Ach ja?» Deacon beobachtet sie im Spiegel, beobachtet sie durch die Flaschen hindurch. «Nun, das würde dir wahrscheinlich auch so gehen, teuerste Susi Sorglos, wenn dir dieselbe Scheiße passiert wäre wie Chance kürzlich.»
Sie sagt kein Wort, keine Antwort außer einem Schulterzucken, Sadies gleichbleibende Antwort auf die unzähligen Unwegsamkeiten des Lebens, über die sie lieber nicht nachdenkt.
Deacon fährt sich durch das kurze mausbraune Haar, er ist nicht wirklich sauer auf Sadie und hofft, dass es auch nicht so klang. Sie zieht einen Schmollmund, rührt geistesabwesend in ihrem Drink, und ihre Unterlippe sieht aus, als hätte eine Wespe hineingestochen. Manchmal ist diese Pose des gefühllosen Goth-Girls einfach schwer zu ertragen, und plötzlich kommt Deacon sich schrecklich alt und müde vor. Er lebt schon so lange in dieser Hölle und kann ernsthaft nicht begreifen, wie Chance Matthews es schafft, weiterzumachen. Jemand wie sie war eigentlich ein Grund, an schlechtes Karma oder die Sünden der Väter zu glauben, jemand wie sie ließ einen die Dinge wieder in der richtigen Relation sehen.
«Du musst
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