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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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Sadie.»
    «Guten Tag, Jerome», antwortet sie und erwidert das Lächeln auf ihre harte, unsichere Art.
    «Ich glaube, heute habe ich etwas für dich», sagt er, greift unter den Tresen, und seine Hand kommt zusammen mit einem Buch wieder zum Vorschein, es ist in elfenbeinfarbenes Leinen gebunden, Titel und Autor sind in goldenen Art-deco-Lettern auf den Buchrücken geprägt: Die besten Gespenstergeschichten von Algernon Blackwood. Vorsichtig nimmt sie es vom Tresen, so wie jemand anders vielleicht eine Diamantkette anfasst oder ein krankes Babykätzchen hochhebt, dann öffnet sie das Buch beim Bild auf der ersten Seite, ein Schwarzweißfoto des Autors in einem eleganten Anzug, traurigfreundliche Augen, seine Fliege ein wenig ungleichmäßig gebunden.
    «Leider ein altes Bibliotheksexemplar», sagt Jerome, und Sadies Blick schweift vom Bild des Autors zu dem karmesinroten GELÖSCHT, das man in großen Buchstaben unter den Titel gestempelt hat, und EIGENTUM DER ÖFFENTLICHEN BIBLIOTHEK NEWBURGH, NEWBURGH, NEW YORK ist in der Farbe von Brombeersaft wiederum darunter gestempelt. Sie seufzt laut, es ist fast ein Akt der Gewalt, ein Buch so zu brandmarken, respektlose und unauslöschliche Tintennarben auf dem Papier zu hinterlassen, das sich an den Ecken gelbbraun verfärbt.
    «Ja, ich weiß», sagt Jerome. «Aber es ist die Ausgabe von 1938.»
    «Hast du gesehen, wie ich eben aus der Bank kam?», fragt sie den alten Mann. Er zuckt schuldbewusst, aber ohne jede Reue die Schultern, während sie aufmerksam das Buch durchblättert. Vorbei an «Die Weiden», «Der Wendigo» und «Verfrühtes Ereignis», denkt an die billige Taschenbuchausgabe mit den vielen Eselsohren, die sie schon so viele Jahre hat, sie musste ein Gummiband darumwickeln, damit die losen Seiten nicht verloren gehen.
    «Zwölf fünfzig», sagt Jerome. «Weil es ein gelöschtes Exemplar ist und weil ich weiß, dass es bei dir gut aufgehoben sein wird.»
    Sadie klappt das Buch zu und legt es behutsam auf den Tresen, nickt bereits, sinnlos, so zu tun, als könnte sie den Laden noch ohne das Buch verlassen. Sie bringt es auch nicht über sich, mit Jerome zu feilschen, wo sie doch weiß, dass er kaum noch genug verdient, um die Stromrechnung zu zahlen. Die Riesenbuchläden in den Einkaufszentren haben ihm vor Jahren seine Kunden gestohlen, und jetzt kaufen die Leute ihre Bücher im Internet. Also lächelt sie ihm noch einmal zu. Jerome sagt, er passe gern auf das Buch auf, falls sie noch ein wenig in den Regalen stöbern möchte. Und mehr hatte sie natürlich ursprünglich gar nicht vorgehabt, als sich für ein oder zwei Stunden die Bücher anzusehen, bis sie nicht mehr so scheißwütend ist auf Deke, trotz frischen Gelds im Portemonnaie, aber sie kann sich beherrschen, und Jerome macht auch nie Ärger, wenn sie einfach nur ein bisschen im Laden herumlungert, ohne etwas zu kaufen.
    «Wie geht es Deke denn so?», fragt Jerome. «Den habe ich ja schon seit Wochen nicht mehr gesehen.» Dabei steckt er das Buch in eine kleine braune Papiertüte, die er am oberen Ende fein säuberlich faltet.
    «Frag mich das besser nochmal etwas später», sagt sie, ihr Lächeln verfliegt, und dann verschwindet sie in die Geschichtsecke, vorbei an hoch aufragenden überfüllten Regalen mit Büchern über den Bürgerkrieg, einer Abteilung für das alte Rom und antike Griechenland, hier lang kommt man am schnellsten zu dem schmalen Regal «Spiritismus und Okkultismus», das am hintersten Ende des Ladens versteckt ist. Nichts besonders Heftiges oder Unheimliches steht da herum, ein paar abgenutzte Bücher von Aleister Crowley und Eden Gray, Edgar Cayce und die Prophezeiungen des Nostradamus, einige völlig austauschbare Handbücher fürs Tarot und I Ging. Mit Yeats’ Eine Vision ist sie halb durch und hofft, dass es niemand kauft, bevor sie damit fertig ist. Sie hat die Stelle mit einer abgerissenen Kinokarte aus ihrer Tasche markiert. Sadie sieht einen wackeligen Stuhl, ein Bein ist fast drei Zentimeter zu kurz, und Yeats wartet noch da, wo sie ihn versteckt hat, hinter dem Buch Mormon. In ihrer Tasche hat sie eine Blechdose mit Altoids, weil Jerome ihr nicht erlaubt, im Buchladen zu rauchen, also kramt sie sie heraus, schiebt sich ein puderweißes Pfefferminz unter die Zunge, klemmt eine umschlaglose Ausgabe von Das Hexenwesen in England und New England unter den kippelnden Stuhl, und einen Augenblick später wird sie schon ganz vom angenehmen Fluss der Worte mitgezogen, konzentriert

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