Fossil
mich ja nicht gleich anschreien», sagt Sadie, flüstert beinahe.
«Ich habe dich nicht angeschrien», sagt Deacon, und jetzt reden sie über den Spiegel miteinander, zu schade, dass seine Eltern nie auf den Trick verfallen sind. Das hätte viel zerschlagenes Porzellan gespart.
«Ich kann nichts dafür, dass sie mich nicht mag.»
Das reicht. Die ausgefranste Zündschnur, so dicht unter Deacons Haut, lodert, es reicht, damit er vom Barhocker aufsteht und zur Tür geht. Vergiss das Bier, vergiss Sadie, er will einfach nicht in ihrer Nähe oder der irgendeines anderen Menschen sein, wenn die Bombe in seinem Kopf explodiert.
Aber sie ruft ihm hinterher, hat immer noch nicht gelernt, wann sie ihn gehen lassen muss, wann sie die Klappe halten und einfach ruhig abwarten muss, bis der Sturm sich gelegt hat. «Was, verdammt nochmal, habe ich gesagt, Deacon?», fragt sie laut. Sheryl beobachtet die beiden jetzt. Sie scheinen ihr noch viel mehr Kopfzerbrechen zu bereiten als der Dicke vorhin. Ihre rauchstaubigen Augen sprechen es aus, geh einfach weiter, Deke, versucht sie zu sagen, ohne den Mund zu öffnen, geh einfach weiter, dann wird sie es schnell wieder vergessen haben und du auch, und niemand ist verletzt. Doch Deke bleibt auf halbem Wege zur roten Eingangstür stehen.
«Du glaubst, es ginge immer nur um dich, Sadie. Aber das hat nichts mit dir zu tun.»
«Das habe ich auch nicht behauptet.» Gott, wie er es hasst, wenn sie zusammenzuckt, ohne einen Muskel zu bewegen, mit Worten zusammenzuckt, als ob sie Angst davor hat, dass er sie schlägt, obwohl er nie auch nur die Hand gegen sie erhoben hat. «Ich will damit nur sagen…»
«Alles, was du sagen willst, Sadie, ist, dass du zu gottverdammt naiv oder oberflächlich oder selbstsüchtig oder sonst was bist, um zu begreifen, warum jemand, der alles verloren hat, jeden Menschen, den er je geliebt hat oder der ihm auch einfach nur nicht scheißegal war, warum so jemand nicht einmal fünf Minuten aufhören kann, sich schrecklich zu fühlen, um dich anzulächeln und dir das Gefühl zu geben, dass du das verdammte leuchtende Zentrum des Universums bist.»
Jetzt sieht er Sadie nicht einmal mehr durch den Spiegel an, so ein Feigling, so ein Idiot, aber in Sheryls grünen Augen steht alles, was er sehen oder wissen müsste, zum Beispiel wie überflüssig das gerade war, dass jemand, der sich Tag für Tag hinter seinen Flaschen versteckt, weil er mit seinem eigenen Leben nicht fertig wird, wirklich starke Nerven hat, wenn er dabei irgendjemandem erzählen will, dass der endlich mal was kapieren soll.
«Ach, egal», sagt Deacon Silvey. Und er wendet sich von Sheryl und Sadie und dem kalten, fast unberührten Bier ab, stolziert am Zigarettenautomaten vorbei und aus der roten Glastür des PLAZA, tritt aus der muffigkühlen Dunkelheit der Bar hinaus in die gnadenlose Hitze und einen sonnenerstickten Tag, genauso wie er ihn sich verdient hat.
Deacon war gerade neun geworden und der Beagle ungefähr seit drei Wochen verschwunden, drei klebrigheiße Wochen im August, zu heiß zum Rausgehen, aber trotzdem spielten Deacon und Davey Barber und ein paar andere Jungs hinter Daveys Haus Football. Jemand passte den Ball zu Deacon, als der stolperte und auf die Hundehütte des Welpen fiel. Die Jungen lachten. Deacon wusste nicht mehr, wo er war, sein rechter Knöchel schmerzte, er wollte wieder aufstehen und zum Gartenschlauch rennen, der das Ziel markierte, als er den Duft von Orangen wahrnahm, Orangenschalen oder roher Fisch, ihm war nie zuvor aufgefallen, wie ähnlich sich die beiden Gerüche waren.
«Hey, Deke, alles okay?» Weiteres Gelächter, und Greg Musgrove rief ihm Weichei hinterher.
«Schon okay», antwortete Deke. «Alles in Ordnung, bin nur über meine eigenen Füße gestolpert.» Doch dieser Orangen-Fisch-Geruch wurde so stark, stark genug, dass sich Deacon der Magen umdrehte. Er musste würgen, lehnte sich gegen die verlassene Hundehütte, Tränen standen ihm in den Augen, und er versuchte, sich nicht zu übergeben.
«Was ist los mit dir, verdammt?», fragte Davey, aber Deacons Kopf tat viel zu weh, als dass er hätte antworten können, zu sehr, um auch nur nachzudenken, außerdem hätte er sich übergeben, wenn er den Mund öffnete, das wusste er genau. Der Football rutschte ihm aus der Hand auf den Boden und rollte hüpfend weg. Inzwischen hatten die anderen Jungen einen Kreis um ihn gebildet, während der Geruch Deacon tiefer und tiefer zog, er fiel und
Weitere Kostenlose Bücher