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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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aus der Kiste ist. Auf der einen Seite die perfekten Trilobitenexuvien, auf der anderen lediglich der einsame rätselhafte Abdruck, das sonderbare Fossil, das Chance für einen Seestern gehalten hat oder irgendeinen Stachelhäuter. Und dann das siebenseitige Polygon innerhalb des Sterns, das Ding, das die durch die Fenster des Labors hereinfallende Spätnachmittagssonne auffing und auf eine Art zurückwarf, die Chance nervös gemacht, die es ihr erschwert hat, den Stein fokussiert anzusehen.
    Direkt unter dem ersten Heptagon hat ihre Großmutter etwas notiert, das von allem, was Chance hier gelesen hat, einer Erklärung am nächsten kommt. Sie liest es jetzt noch einmal, starrt die Worte an wie eine Wahnsinnige, die versucht, einen letzten Blick auf die Wirklichkeit zu erhaschen.
    Es macht jetzt nichts mehr, dass es unmöglich ist, dass diese Wörter schlimmer sind als alles andere zusammen – Elise’ Selbstmord, die Dinge, die Deacon sieht, Dancy und ihre Mythenwelt aus Engeln und Dämonen –, und trotzdem liest Chance weiter, weil ihr gar nichts anderes übrigbleibt, weil ihr die Kraft und der Wille dazu fehlen, das Buch zuzuklappen und für immer beiseitezulegen.
    Die Tinte ist vor zehn langen Jahren getrocknet. Als Chance es gelesen hat, steht sie auf, geht hinüber zur Tafel, das Notizbuch aufgeschlagen in der linken Hand, und holt ein grünes Stückchen Kreide aus der Plastikschale auf dem Aktenschrank, Kreide in der hübschen weichen Farbe von Minzbonbons. Ungeduldig blättert sie die Seiten um, bis sie schließlich das detailgenaue Diagramm wiederfindet, das Esther Matthews von dem Ding im Stein angefertigt hat, mehr ist von ihm ja nicht übrig geblieben. Zunächst malt Chance die sternförmige äußere Form ab, zieht jede Linie so gerade, wie es ohne Lineal und Maßstab eben geht, dann fügt sie das aufrecht stehende innere Heptagon ein und betrachtet schließlich, was sie da gezeichnet hat. Doch an diesen geometrischen Figuren ist nicht das Geringste auffällig oder merkwürdig. Das Zusammenspiel der grünen Linien auf der schwarzen Tafel gibt keinerlei Antworten auf all die offenen Fragen. Chance reibt sich mit der rechten Hand die Stirn. Sie fühlt die ersten schwachen Stiche eines beginnenden Kopfschmerzes irgendwo vorn in ihrem Schädel, obwohl sie eigentlich niemals Kopfschmerzen hat, und schließt die Augen. Es ist ein Fossil, denkt sie. Es ist nichts als ein Fossil, und meine Großmutter war eine verrückte alte Dame. Ich begreife es nicht, weil es da nichts zu begreifen gibt.
    Und dann hat sie eine plötzliche Eingebung, es ist eigentlich so offensichtlich, dass es ihr gleich hätte auffallen müssen, ihrer Großmutter ist das bestimmt irgendwann aufgegangen. Chance öffnet die Augen. Das unregelmäßige Polygon wartet noch immer im Inneren des Sterns.
    «Unregelmäßig, weil es eine zweidimensionale Abbildung ist.» Sie hat es laut ausgesprochen, aber das macht nichts, weil niemand da ist, der sie hören könnte, niemand, der ihr Fragen stellen oder nachdenken könnte über das, was sie da sagt. «Das Fossil war aber dreidimensional.» Chance setzt die Kreide an der untersten Spitze des Heptagons an und zieht diesmal gebogene Linien.
    «Gebogene Linien, verdammt», sagt sie, «dann sind alle Seiten und alle Winkel kongruent.» Genau wie bei dem Ding im Hämatit, dicht dran zumindest, vielleicht. Chance zieht ihre sieben Linien nochmal nach, so kräftig, dass die Kreide bröckelt und mintgrüne Krümel als Sprenkel auf Chance’ Stiefelspitzen landen.
    Sie hält inne und ruft sich den gestrigen Augenblick ins Gedächtnis, als sie den Winkelmesser auf den Stein gesetzt hat, den Augenblick, bevor sie hörte, wie sich draußen vor dem Labor etwas bewegte.
    Aber der äußere Umriss war nicht gebogen, oder doch? Der äußere Umriss des Fossils war gerade.
    Ein Geräusch irgendwo dicht hinter ihr, ein nasser und reißender Laut. Es klingt, als würde man einen Kopfsalat langsam auseinanderbrechen, ihn in Stücke reißen, es ist fast so sehr ein Gefühl wie ein Geräusch. Chance dreht sich nicht um, sieht nicht hin, bewegt sich nicht, aber der Schmerz in ihrem Kopf hat sich verdoppelt, verdreifacht. Seine Wucht treibt ihr heiße Tränen über die Wangen, und sie schließt die Augen wieder, damit sie sich nicht anschauen muss, was sie auf die Tafel gemalt hat. Als ob der Schmerz und das schreckliche Geräusch verschwinden würden, wenn sie die Augen schließt. «Ich habe keine Angst mehr», flüstert sie

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