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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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sich längst die Aufmerksamkeit und den Respekt von Wissenschaftlern selbst von weitentfernten Universitäten wie London oder München erarbeitet. Ein Mädchen von irgendeinem unbedeutenden College irgendwo in der Pampa! Dann fand sie auch noch einen weiteren neuen Tetrapoden und mindestens vier neue Arten Actinistia und Rhipidistiafische. Ihre Tage gehörten den Geheimnissen und Offenbarungen alter fremdartiger Skelette. Aber diese Geheimnisse ragten nie über die eng eingezäunten Gebiete des Rationalen, des Empirischen hinaus. Chance’ Studien und Erkenntnisse flößten ihr nur noch mehr Respekt für die Methoden der Wissenschaft ein und bestätigten sie in ihrem Glauben an die Vorhersagbarkeit der gleichbleibenden Zyklen der Natur.
     
     
    Das Labor sieht immer noch fast genauso aus, wie sie es gestern verlassen hat, ganz genauso sogar, einmal abgesehen von der verschwundenen Kiste. Chance steht im Türrahmen und starrt auf den leeren Platz, wo sie hätte sein sollen. Da hat sie sie zurückgelassen. Während Chance einsam dort steht, umgeben von Schränken voller Funde und den weißgestrichenen Wänden, und während aus dem Sonntagvormittag langsam Sonntagnachmittag wird, ist es sehr schwierig, die Dinge, die sie gehört und gesehen hat, einfach zu leugnen und so zu tun, als habe sie keine Angst. Vielleicht war das hier doch keine so gute Idee. Möglicherweise geht es ihr besser damit, wenn sie den Tag zu Hause verbringt. Sie ist schon kurz davor, ein paar Papiere und Fossilien von ihrem Schreibtisch zu holen. Ihr ist ohnehin nicht ganz wohl dabei, Deacon und Sadie allein zu lassen. Wenn sie die beiden bittet, sie ein paar Stunden nicht zu stören, kann sie ebenso gut in ihrem Dachzimmer oder im Arbeitszimmer ihrer Großeltern arbeiten wie im Labor, besser sogar.
    Wem willst du eigentlich gerade etwas vormachen? Als ob sie heute tatsächlich vorgehabt hätte, über ihrer Doktorarbeit zu sitzen, als ob sie in der Lage wäre, sich geistig mit Kladogrammen oder Morphometrik zu beschäftigen oder irgendetwas anderem, das ähnlich logisch und nachvollziehbar ist, während die Rätsel des Notizbuchs ihrer Großmutter noch immer ungelöst sind. Chance schaut über ihre Schulter, hinter ihr im Türrahmen ein Ausschnitt der Hitze und des hellen Mittagssonnenscheins und der Asphalttrostlosigkeit des großen Parkplatzes. Ihr wird etwas schwindlig, sie fühlt sich seltsam orientierungslos, als ob die Welt dort draußen sich langsam von ihr entfernt.
    Es ist gefährlich, denkt sie, das war eines der letzten Dinge, die Dancy zu ihr gesagt hat, wenn sie kommen, bist du hier allein nicht sicher. Sie hatte so verloren gewirkt dabei, ihr eindringlicher Blick damals verursacht Chance jetzt immer noch Gänsehaut, obwohl es stickig ist im Büro.
    «Jetzt reicht es langsam, komm wieder zu dir», flüstert sie sich selbst zu, obwohl sie seit Freitagnacht nicht mehr wirklich das Gefühl hat, ganz «bei sich» zu sein, nicht seit Dancy unten auf der Treppe den Namen des Trilobiten ausgerufen hat, nicht seit den ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und dem verwesenden Finger im Babygläschen. Diese kleinen Dinge der Unmöglichkeit drohen ihr den Kopf zu sprengen, und sie bewegt sich seitdem unaufhaltsam von einem Ausgangszustand geistiger Zurechnungsfähigkeit auf den Moment zu, in dem ihr auf einmal alles, aber auch wirklich alles vollkommen gleich wahrscheinlich und möglich erscheinen wird.
    Sie schluckt und zieht die Tür des Labors hinter sich zu, die mit einem Klicken zuschnappt, ein metallisch-lautes Klicken in der Stille. Dann holt Chance tief Luft, atmet wieder aus und geht an dem Tisch vorbei, auf dem sie die verschwundene Kiste stehengelassen hat. Sie nimmt den Rucksack von der Schulter und geht den dunklen engen Gang entlang bis zu ihrem Büro, das sie sich mit den anderen Geologiedoktoranden teilt.
    Eigentlich kann man den Raum nur im allerweitesten Sinne überhaupt als Büro bezeichnen. Er beherbergt drei graffitivernarbte Schultische aus Holz, wahrscheinlich schon antik, als Chance’ Eltern noch Kinder waren, eine Drehtafel und ein paar Kreidestummel. Dann noch einen rostigen, quietschenden Aktenschrank, der vor langer Zeit vielleicht einmal industriegrau gestrichen war und sich an ein Bücherbord aus Spanplatten schmiegt. Das Regal ist weit über seine Kapazitäten mit Büchern vollgestopft, sodass seine Einlegeböden sich langsam durchbiegen. An den Wänden hängen an Nägeln und Haken die verschiedensten Gegenstände,

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