Fossil
die man für die Feldforschung braucht: Siebe und Rollen mit Nylonschnur, Schaufeln und Spitzhacken. Das «Büro» dient nämlich gleichzeitig als Werkzeugkammer. Einer der anderen Doktoranden, ein kleiner überdrehter Kerl namens Winston, hat ein Poster über den Aktenschrank gehängt. Darauf ist eine neblige Felsenküste zu sehen, vielleicht in Oregon aufgenommen oder Nordkalifornien, und untendrunter steht in großen weißen Lettern DIE DINGE BRAUCHEN IHRE ZEIT. Chance’ Schreibtisch ist ordentlicher als die anderen, aber das bedeutet hier nicht viel. Sie legt den Rucksack auf einen dicken Stapel Kurzklausuren von letzter Woche, zu deren Korrektur sie noch nicht gekommen ist. Dann setzt sie sich in einen feststehenden Drehstuhl, den sie vor einem Jahr für zwei Dollar und fünfzig Cent in einem Laden der Heilsarmee gekauft hat. Der rissige Lederbezug hat die Farbe von matschigem rotem Ton, außerdem ist unten eine Feder kaputt, sodass sie immer aufpassen muss, dass sie sich nicht zu weit nach hinten lehnt, weil der Stuhl nämlich andernfalls umfällt und sie auf den harten Zementboden schleudert. Sie macht den Rucksack auf, zieht das Notizbuch ihrer Großmutter heraus und starrt auf den Deckel. Sie kann sich nicht daran erinnern, dass sie jemals eine so sonderbare Kombination aus Grauen und neugieriger Spannung empfunden hat wie jetzt bei jedem Blick auf das Notizbuch. Es ist ein aufreibendes, bitteres Gemisch aus Angst und einem fast angenehmen Nervenkitzel. So müssen sich Leute fühlen, die gern Achterbahn fahren. Chance liest laut vor, was auf dem Deckel steht, wenig Bemerkenswertes in Esther Matthews’ wenig bemerkenswerter Handschrift.
«Beobachtungen über die Trilobiten der Red-Mountain-Formation, Unteres und Mittleres Silur…» Sie verstummt, weiß das inzwischen ohnehin alles auswendig, den langen Titel und dann das daruntergekritzelte Datum. Sie öffnet das Buch an der Stelle, wo das Papier eines Schokoriegels die Seite markiert. Hier enden die Aufzeichnungen ihrer Großmutter über Trilobiten und Biostratigraphie, und die obsessiven Versuche, ein rätselhaftes Geometrieproblem zu lösen, beginnen. Nr. 134ist in Marineblau in die linke obere Seitenecke gestempelt. Darunter finden sich die letzten Zeilen eines Eintrags vom 28. Juli 1991, ein Vergleich der Facettenaugen zweier nahverwandter Trilobiten, des Cryptholithus und des Omnia, und dann noch die hoffnungsvolle Bemerkung, dass Esther möglicherweise bald mit einem Elektronenmikroskop arbeiten kann. Dann hat sie einige Zeilen ausgelassen. Auf der unteren Hälfte der Seite befindet sich die fein säuberliche Bleistiftzeichnung eines siebenseitigen Polygons. Der Winkel zwischen den Seiten und die Länge jeder Seite sind in so kleiner Schrift notiert, dass man sie kaum lesen kann. Jedenfalls ist jede Seite länger oder kürzer als die vor oder nach ihr, jeder Winkel mehr oder weniger stumpf. Chance war nie ein besonderes Genie in Mathe, aber trotzdem ist ihr bekannt, dass es unmöglich ist, jemals ein regelmäßiges Heptagon zu konstruieren, ein Polygon also mit sieben gleich langen Seiten, die im gleichen Winkelabstand zueinander stehen. Es ist eine dieser hässlichen kleinen Eigenheiten des Universums wie die Zahl π oder Schrödingers Katze, ein scheinbar simples Problem, das sich bei näherer Überprüfung aber als ewig unauflösbare Gleichung oder Paradoxon entpuppt. Sie blättert weiter, an einem Dutzend weiterer Heptagone vorbei, allesamt so genau gezeichnet wie das erste, alle Längen und Winkel sind sorgfältig notiert, hingekrakelte Beweise und nicht enden wollende Zahlenströme, die Chance ungefähr so viel sagen wie Sanskrit oder Japanisch. Trotzdem ist unschwer zu erkennen, was ihre Großmutter hier versucht hat, es ist vollkommen offensichtlich, Seite um Seite voller Zahlen, und dabei rang sie die ganze Zeit mit dem Unmöglichen, versuchte nichts weniger, als das Unkonstruierbare zu konstruieren.
Nein, denkt Chance. Darum geht es gar nicht. Sie hat versucht, das Unmögliche zu reproduzieren. Wollte etwas aufs Papier bringen, das sie gesehen hat oder das sie beim Zeichnen sogar betrachten konnte, während sie all diese Messungen und Kalkulationen anfertigte, während sie diese Seiten mit Zeichnungen und Zahlen füllte.
Gestern Nacht, als Deacon und Sadie unten geschlafen haben und Chance allein oben in ihrem Zimmer war, ist sie darauf gekommen, dass die Verbindung zu diesen fruchtlosen Berechnungen das seltsame Fossil im Erzbrocken
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