Fossil
ist. Eigentlich müsste hier alles vereist sein, bei so viel Wasser und dieser Kälte, überall sollten Raureif und Eiszapfen sein, und der Matsch unter ihren Füßen müsste bei jedem Schritt knirschen wie brechendes Glas. Vielleicht ist die Kälte ja aber auch in ihr, das würde erklären, warum sie ihren Atem nicht sehen kann, weshalb die kleinen Rinnsale, die sich aus dem Wasser an den Wänden speisen und durch den Tunnel winden, ungehindert zur Höhle fließen. Chance schlingt die Arme um ihren Oberkörper und folgt dem Wasser, stolpert auf gefühllosen Füßen voran, wie eine von Viktor Frankensteins zum Leben erweckten Kreaturen.
Als sie das Ende des Tunnels erreicht, bleibt sie zitternd und mit klappernden Zähnen auf einem schmalen bröckelnden Felsvorsprung stehen. Die letzten Meter des Tunnels führen hinunter in die Höhle unten. Sie späht über die Spalte oder Kluft hinweg. Die ist so breit und tief, dass Chance das andere Ende nicht erkennen kann. Bis dahin könnten es Meilen sein, falls die Höhle überhaupt ein Ende hat, wo der Tunnel wieder beginnt und dieser Abszess im Berg aufhört.
Sie schaut hinauf, hinauf, bevor sie es wagt, nach unten zu sehen, und statt der Stalaktiten glaubt sie, Sterne zu erkennen, saphirblaue und diamantene Nadelstiche in einem mondlosen Himmel, und das Gewicht dieses Himmels lastet auf ihren Schultern wie eine Todesnachricht, der Tod ihres eigenen Herzens, als hätte sie alles verloren, was sie jemals geliebt hat. Chance merkt, dass sie schon wieder auf den Knien liegt, kann sich nicht daran erinnern, wie sie gefallen ist, trotzdem kniet sie hier, auf die Hände gestützt in dem Matsch, der nicht gefroren ist, ihre Tränen fallen zu Boden, um mit dem gurgelnden Tunnelwasser über den Abhang zu fließen.
Es ist nichts, was du wiedererkennen könntest, und wenn du deine Augen hier unten je öffnest, wirst du nie wieder daran zweifeln.
Gewaltig ragen zu ihrer Rechten die eisernen Wasserrohre auf, ein Stück weiter stürzen sie sich in die Kluft hinab. Chance folgt ihnen mit den Augen über den Felsenrand, wie sie fast vertikal die steile Wand hinunterlaufen, hundert oder hundertfünfzig Meter voller Rost und Schrauben, bevor sie in einer dichten Decke aus phosphoreszierenden Pilzen verschwinden. Fleischige lebende Laternen, die die Stämme und Ranken eines Waldes erleuchten, der vor der Felsenwand wächst: Pflanzen in der unansehnlichen Farbe von Buttermilch und Sperma, die bis in den Himmel aufzuragen scheinen, ihre Zweige und Blätter schwanken hin und her wie die blinden Stiele und Fühler von Tiefseewesen. Weiter entfernt kann sie über den blassen rauschenden Baldachin aus Blättern hinweg etwas wie einen Fluss erkennen, doch was da klebrig übers Flussbett fließt, ist kein Wasser.
All das, bevor sie bemerkt, was aus dem Wald gekommen ist und nun über die Rohre zu ihr hinaufklettert, mit Tausenden von Mitternachts- und Stahlkabelranken, um sich langsam weiter hochzuschieben. Und bevor Chance endgültig die Augen bedeckt und vom Rand des Felsvorsprungs zurückweicht, erhascht sie noch ein trübes Aufblitzen in den siebenseitigen Facettenaugen, weiß, dass es sie wiedererkennt, und sieht auch die schrumpligen Figuren, die in seinem bebenden Körper stecken wie Fleischfetzen zwischen den Zähnen eines Hundes. Es sind die Körper von Dancy und Elise, von ihrer Großmutter und noch ein Dutzend anderer fremder Gesichter, allesamt Leichen, die niemals sterben können, denen es ewig verwehrt bleibt, mit dem schmerzlosen Nichts zu verschmelzen. Elise schaut sie an, aus weit geöffneten flehenden Augen. Das ist Elise und nicht irgendeine Nachahmung oder Täuschung.
«Vergiss das hier alles, Chance», flüstert sie. «Vergiss es und schau nicht zurück.»
Chance’ Augen öffnen sich, erblicken aber nicht die fremdartigen Sterne, sondern wie die Welt herniederstürzt, wie alles wieder an seinen angestammten Platz rauscht. Sie selbst sitzt in der Ecke hinter ihrem Schreibtisch und zwei Plastikkisten voller versteinerter Austern und presst sich gegen die Wand. Ihre Zähne klappern noch immer, ihre Haut ist gefühllos und kalt. Chance’ Brustkorb hebt und senkt sich, während sie verzweifelt in großen Zügen die modrige Luft einatmet, nach Luft schnappt wie eine wiederbelebte Ertrunkene, die, plötzlich und brutal in diese Welt zurückgerissen, durch dasselbe Loch wieder aus einem zugefrorenen Fluss gezogen wird. Die Nachmittagssonne scheint durch das Laborfenster,
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